Frauen, Altersarmut und die Wiener Wohnfrage
Wohnen in Wien, das heißt im internationalen Vergleich: regulierter Mietmarkt, zugänglicher Gemeindebau, verschwindend wenig Obdachlosigkeit. Wieso sitzt eine Anfangsechzigerin dann bettelnd auf der Straße? Wieso muss eine Pensionistin von einer Couch auf die nächste ziehen? Lisa Bolyos (Text) hat nachgefragt, warum gerade Frauen so oft von Altersarmut betroffen sind und was das mit ihrer Wohnsituation zu tun hat.
Illustrationen: Nina Pieper
Ein Buch mit dem klingenden Titel «Altweiberwohnen» liegt zur Rezension auf meinem Tisch; ein gelungenes Werk. In wunderschönen Fotografien und respektvollen Texten werden alte alleinstehende Frauen porträtiert: Wie wohnen sie? Gefällt ihnen das? Wie gestalten sie das Leben in ihren vier oder mehr Wänden?
Und (frage ich mich), wo kommen jene zu Wort, die sich so ein selbständiges Wohnen im Alter nicht leisten können?
Ich habe mich aufgemacht, mit Frauen zu sprechen, die ebenfalls im Pensionsalter sind, deren Liebste ihnen aber keine Villa und auch keine Häuschen vererbt haben – ja, die noch nicht einmal den Vormerkschein für eine Gemeindewohnung ihr eigen nennen. Wie wohnt es sich mit sechsundsechzig in den Wohnzimmern von wechselnden Bekannten? Wie fühlt sich der «dritte Lebensabschnitt» an, wenn man ihn auf der Straße verbringt? Und was bringt fünf alte Frauen dazu, eine WG zu gründen?
Pensionistinnen ohne Pension
Im «Global Age Watch Index» aus dem Jahr 2015 belegt Österreich Platz 13 von 96. Allerdings beruht dieses schmeichelhafte Ranking auf der Annahme, dass «100 % aller Menschen über 65 eine Pension erhalten». Und das trifft nicht zu.
Anna* winkt ab, als ich sie ersuche, sich für ein paar Fragen Zeit zu nehmen. «Frag doch die Jungen!» Aber was können die mir schon erzählen? Anna steht dick eingepackt im Windfang eines Supermarkts in Wien Alsergrund – seit zwölf Jahren macht sie das. «Ich bettle nicht, ich warte. Wer mir was geben will, kann zu mir kommen.» Sie lacht laut. Tatsächlich kommt wenig später ein Mann im blauen Dufflecoat und gibt ihr eine Handvoll Kleingeld. In den Rauchpausen gesellen sich die Supermarktangestellten zum Tratschen zu ihr, manchmal bekomme sie abends ein paar Lebensmittel, die sonst in den Müll wandern würden. «Zuhause kochen wir dann gemeinsam: Bohnengerichte und Erdäpfel.» Anna wohnt mit vier anderen Frauen in einer Bettlerinnen- und Straßenzeitungsverkäuferinnen-WG. «Das Team der alten Knackerinnen!», nennt sie das. Dann streckt sie mir auch schon wieder die Hand zum Abschied hin. Gott habe mich und meine Familie selig – aber ich störe das Geschäft.
Schätzungsweise 15 Prozent der Frauen über 60 Jahren sind in Österreich ohne Pensionsanspruch, schreibt die Ökonomin Christa Schlager im «Handbuch Armut in Österreich» (2014). Da sind jene Frauen noch gar nicht mitgezählt, die nicht einmal einen Meldezettel haben, deren Kranksein, deren Pflegebedürftigkeit, deren Frieren auch in Wien stattfindet, es aber nicht in die Statistik schafft. Anna ist eine davon.
Altersarmut in Zahlen
Wie kommen alte Frauen dazu, arm zu sein? In einem Sozialstaat wie Österreich gibt es mehrere Möglichkeiten. Erstens, fehlender Pensionsanspruch. Die Alterspension ist in Österreich eine Versicherungsleistung, die nur aus entsprechenden Beitragsjahren lukriert werden kann – oder, als Witwenpension, aus einem verstorbenen Ehepartner. Beitragsjahre sammelt, wer einer Erwerbsarbeit nachgeht. Kommt man erst im Pensionsalter nach Österreich oder hat aus diversen Gründen trotz langer Arbeitsbiographie nicht in die Pensionskassa eingezahlt, dann bleibt im Alter nur die «bedarfsorientierte Mindestsicherung». Die wird nicht bedingungslos ausgezahlt, es gilt also, Nachweise zu erbringen. «Da können schwierige Situationen zustande kommen», sagt die Ökonomin Käthe Knittler. «Wenn ich zum Beispiel eine Wohnung habe, kann dieses ‹Vermögen› den Bezug der Mindestsicherung im schlimmsten Fall verhindern. Es ist zwar nicht prinzipiell falsch, das Vermögen zu beachten, aber man muss bedenken, dass der Verlust einer Wohnung auch den Verlust eines bestehenden sozialen Umfelds bedeuten kann. Und das ist im Alter besonders schlimm.»
Zweitens: Auch mit Pensionsanspruch münden Frauenerwerbsbiographien nach wie vor leicht in Altersarmut, bestätigt Knittler. «In der Pension kulminiert alles an Geschlechtsspezifika, was das Erwerbsleben zu bieten hat: Teilzeitarbeit, Erwerbsunterbrechungen durch Kindererziehung, Lohndiskriminierung.» Der längere Durchrechnungszeitraum seit der Pensionsreform 2003 sei für Frauen eine Katastrophe, sagt Knittler. Zwar werden Kinderbetreuungszeiten pauschal angerechnet, aber das gleiche den Verlust nicht aus, den die Reform den Frauen eingebracht hat. «Die Anrechnung von Kinderbetreuungszeiten auszuweiten wäre zwar eine mögliche Forderung», sagt Erik Türk, Referent für Alterssicherung und Sozialstaatsfinanzierung der Arbeiterkammer Wien, «aber man muss genau schauen, was man da für Anreize setzt.» Tatsächlich brauche es vor allem verbesserte Erwerbschancen durch eine ambitionierte Bekämpfung der viel zu hohen Arbeitslosigkeit und ein besseres Angebot an Betreuungseinrichtungen, das allen Menschen die Wahl lässt, ob und wie viel sie lohnarbeiten gehen.
Während sich die Rollenvorstellungen in Österreich nämlich stark verändert haben, hinkt die Praxis der Arbeitsaufteilung weit hinterher, schreibt Christa Schlager: Zwei Drittel der nichtbezahlten Arbeit wird nach wie vor von Frauen geleistet. Als wäre das nicht genug, liegt der durchschnittliche Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, der sogenannte «Gender Pay Gap», bei knapp 23 Prozent – dieser Einkommensunterschied wirkt sich direkt auf die unterschiedliche Höhe der Pensionen aus. 1579 Euro beträgt laut Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger im Jahr 2015 die durchschnittliche Pension für Männer; 963 Euro für Frauen. Wobei diese Durchschnittszahl von der Pension der Arbeiterin (701 Euro) oder gar der Bäuerin (637 Euro) noch weit unterschritten wird.
Um eine «Mindestpension» zu sichern, werden niedrige Pensionen mit Ausgleichszulagen erhöht. Der Richtsatz für die Ausgleichszulagen liegt 2016 jedoch bei 882,78 Euro; das ist ein ganzes Stück unter der Armutsgrenze. Sinnvoll sei das nicht, bestätigt Erik Türk: «Wenn es eine anerkannte Armutsschwelle gibt, sollten sich die Instrumente, mit denen ich Armut entgegenwirken möchte, daran orientieren.»
Ein dauernder Stressstrudel
Karina sitzt in einem windgeschützten U-Bahn-Durchgang am kalten Boden. Die dicke Jacke hat ihr eine Passantin geschenkt. Eine andere wiederum, erzählt sie, wollte die Polizei holen, als Karina einmal ein Liedchen sang: Ruhestörung! So lässt sich die Bandbreite der Wiener_innen ermessen, die hier täglich vorüberhasten. Manche werfen 50 Cent in den Pappbecher, einige grüßen freundlich.
Seit fünf Jahren kommt Karina von Rumänien nach Wien, um mit Betteln das Geld einzubringen, das ihr Sohn nicht mehr verdienen kann. Nach einem Unfall musste ihm ein Bein amputiert werden. Neben den alltäglichen Ausgaben will Karina für eine Prothese sparen, aber da geht es um mehrere tausend Euro, und mit dem Betteln in Wien verdient sie monatlich gerade mal 300 – wenn’s gut geht. «Früher gab es mehr Verständnis für meine Situation», sagt sie. «Heute werde ich oft beschimpft, ich sei faul, ich komme von der Mafia. Die Leute haben selber überhaupt keine Nerven mehr.» Karina ist Anfang sechzig, sechsfache Mutter, vierzehnfache Großmutter. Eigentlich eine schöne Vorstellung: Vierzehn Enkelkinder, was braucht man mehr zum Glücklichsein? Aber das Haus in dem kleinen Dorf nahe Târgoviște, achtzig Kilometer nördlich von Bukarest, die Subsistenzlandwirtschaft und auch das eigene Auto hat Karina verkauft, um die Behandlung ihres Sohnes zu finanzieren. Die Frustration treibt ihr die Tränen in die Augen. «Ich bin eine alte Frau. Ich bin vorher nie gereist, und jetzt bettle ich seit Jahren in dieser Stadt, und es geht sich hinten und vorne nicht aus. Es ist ein dauernder Stressstrudel. Foarte greu. Sehr schwer.»
Karina hat in Wien keinen Zugang zu altersgerechtem Wohnen. Eine Zeitlang hat sie sich mit ihrer Tochter, die auch zum Betteln in die Stadt kam, eine Matratze in einer Unterkunft geteilt – aber das war «sehr teuer und sehr unangenehm». Im Moment kommt sie bei einem Neffen in Wien Simmering unter. Wie lange, ist unklar. Um einen Meldezettel zu bekommen, der Voraussetzung für eine Reihe von Behördengängen ist, braucht sie einen fixen Wohnsitz. «Natürlich würde ich mir wünschen, einen Ort zu haben, der meiner ist, und sei es nur ein Zimmer für mich allein. Aber da mach ich mir keine Hoffnungen. Ich bin zum Betteln hier. Ich habe keine Möglichkeit, mir ein Luxusleben auszusuchen.» Ist Privatsphäre also ein Luxusgut, auf das nicht jede_r ein Anrecht hat?
Kein Zimmer für mich allein
Eigener Wohnraum, Gesundheitsversorgung, emotionale Unabhängigkeit – drei Dinge, auf die niemand verzichten müssen sollte.
Auch Rosalia, 66, ist abhängig von der Solidarität ihrer Bekannten. Derer sie zum Glück viele hat! Es ist «eine Wechselgeschichte», sagt sie, will heißen: Als sie eine Wohnung hatte, konnte man auf ihrer Couch unterkommen, und jetzt ist es umgekehrt. Ihre Wohnung in Wien Landstraße hat sie recht unspektakulär verloren. «Der Mietvertrag ist ausgelaufen, der Besitzer hat verkauft.» Ihre Biographie als mehrfache Mutter mit einer Reihe von – sagen wir’s euphemistisch, um den beteiligten Behörden nicht zu nahe zu treten – Schicksalsschlägen mündete in einem fehlenden Pensionsanspruch. Rosalia lebt von der Mindestsicherung «und dem bisserl, was über den Straßenzeitungsverkauf dazukommt». Davon könnte sie sich eine Wohnung leisten, die geräumig genug ist für sie und ihre Tochter, aber Geld für Kaution und Provision ist nicht drin. Für eine Gemeindewohnung ist ihr die Wartezeit zu lang (durchschnittlich zwei bis drei Jahre), und ganz ehrlich, sie will auch gern in einem Ziegelbau wohnen, in einem ruhigen Bezirk. «Ich bin im Gemeindebau aufgewachsen, und ich werd’ dort nicht froh.» Außerdem braucht sie eine Parterrewohnung, weil sie gesundheitsbedingt keine Stiegen mehr steigen kann. Auch für sie ist es zentral, über das Wie und Wo des Wohnens selbst zu entscheiden.
«Ich will meine Individualität bewahren.», antwortet Rosalia auf die Frage, ob Notschlafstellen je eine Möglichkeit für sie waren. Eine Tür zumachen können; den Fernseher auf- und abdrehen, wann sie will; die Entscheidung über das Essen selbst fällen; sich nicht sagen lassen, wann Schlafenszeit ist und wo man nicht rauchen darf. Darum ist auch die Frage schnell beantwortet, wie die Pflegesituation – sollte sie nötig werden – einmal aussehen soll: «Ob das meine Tochter macht oder eine 24-Stunden-Pflege, ist mir egal. Hauptsache, ich kann zu Hause sein.» Im «Handbuch Armut in Österreich» schreiben Martin Schenk, Daniela Palk und Tom Schmid: «Die größte Bereitschaft zum Selberpflegen besteht beim ärmsten Teil der Bevölkerung. Moralische Erwägungen zählen da weniger als Kostenabwägungen.» Pflegebedürftigkeit, Alter und Armut sind in Kombination ein großes Risiko. Wenn Rosalia in den Medien von aktuellen Fällen physischer und psychischer Misshandlung im Pflegeheim liest, dann versteht sie ganz richtig, dass es da um Leute wie sie geht. Leute, die keine finanzielle Absicherung haben, um sich im Alter Schöner Wohnen mit einem «Sorglos Umsorgt»-Paket leisten können, wie es schicke betreute Wohnprojekte für betuchte Pensionist_innen anpreisen. Leute, die keine Anwältin in der Familie haben, keine generationenalte Freund(erlwirt)schaft zum Direktor der Geriatrie pflegen und so weiter und so fort – die also wenig bis keine finanzielle und soziale Autonomie genießen. Die Handvoll Freiheiten, die sich Rosalia gegen alle Widerstände bewahrt hat, will sie ums sprichwörtliche Verrecken nicht aufgeben: «Im Pflegeheim sein, das ist ja kein Leben. Da brauch ich gleich gar keines.»