Nicht nur die großen Häuser hat das Virus hart erwischt, auch die kleinen Puppenbühnen leiden unter der Krise. Es wäre schade um sie, denn die nur scheinbar winzige Kasperlbühne ist ein faszinierender und geschichtsträchtiger Mikrokosmos.
TEXT: FRANK JÖDICKE
Der Sommer war noch einigermaßen erträglich. Mit großem Aufwand haben die beiden Puppenspieler_innen den Asphalt vor ihrer Bühne mittels Klebebändern in ein Schachbrettmuster verwandelt. In jedem Quadrat darf nur ein Kind sitzen, bestenfalls gemeinsam mit seinem Geschwisterkind. Erwartungsvoll schaut das junge Publikum zur Bühne, bis die Musik erklingt und sich der Vorhang hebt. Die Lage ist auch für die «Großen» vom ORF schwierig geworden, denn aufgrund der Corona-Pandemie finden kaum mehr Vorstellungen statt. «Einen zweiten Lockdown derblasen wir nicht», war die lakonisch-wienerische Einschätzung – im Sommer. Mittlerweile halten wir bei Lockdown drei.
Gerade die Stadt Wien würde ungeheuer viel verlieren, wenn ihre zahlreichen Kasperlbühnen aufgeben müssten. Sie sind nämlich Teil einer besonderen Wiener Tradition. Das volkstümliche Theater des 19. Jahrhunderts mochte es gerne zünftig und handfest. Der Kasperl hat seine Wurzeln im «Wurstl». Der wiederum eine Art Miniaturausgabe des Hanswursts war. Wem von beiden der Wurstlprater seinen Namen verdankt, sei dahingestellt, den Würsteln aber sicher nicht. Der Wurstl war ein grober Klotz, der all seine Probleme mit Draufhauen erledigte. Zum Gaudium des Publikums bekam früher oder später jeder eine aufgelegt, dass es rauchte – und gut war’s. Punch and Judy, das englische Pendant des Wurstl, belegen, dass diese Art Humor anschlussfähig in ganz Europa war, denn allerorten war der Witz, die «Punch-Line», letztlich ein Fausthieb.
Ist der Kasperl Sozialist?
Der Pädagoge, Individualpsychologe und 1940 im KZ Buchenwald ermordete Otto Felix Kanitz erkannte in den 1920er-Jahren das Potenzial des Wurstl. Die Kinder liebten die kleine Bühne und die grobe Show. Warum diese nicht ein bisschen komplexer gestalten und für die gute Sache nutzen? Die Rolle des Kasperl wurde entwickelt. Der Kasperl war nun ein Underdog und immer auf der Seite der Armen. Stets pfiffig und fröhlich suchte er nach Wegen, dem Guten zum Sieg zu verhelfen. Für den Reformpädagogen Kanitz war der Kasperl ein gesellschaftliches Erziehungsmittel. Der Kasperl nahm Kontakt zum Publikum auf und bat um Hilfe bei der Lösung seiner teils hochmoralischen Malaisen. Kanitz arbeitete in den 1920ern und 1930ern als Pädagoge bei den Kinderfreunden. Der Kinderfreunde-Kasperl war, einer nicht wirklich zu belegenden Legende nach, der erste Kasperl, der auf die Bühne gestürmt kam mit dem legendären «Kinder, seid ihr alle da?». Zu Kanitz hätte dieser Satz proletarischer Selbstvergewisserung zumindest gut gepasst. Im Nationalsozialismus wurden die Kasperl dann gleichgeschaltet, und vorübergehend gab es ein dem Propagandaministerium unterstelltes «Reichsinstitut für Puppenspiel». Nach dem Verbot in dieser dunklen Epoche tauchte der Kinderfreunde-Kasperl wieder auf, und es gibt ihn bis heute.
Seit dreißig Jahren stecken die Hände von Eva Tschernuth und Eva Mayer in den Puppen. Auf den Kopf zu gefragt, ob der Kasperl denn «links» sei, meinen die beiden, wenn empathisches Handeln links sei, dann ist er links. Der Kasperl hat die Schwächsten im Blick, und es geht ihm um den Umgang miteinander. Konfliktlösung ohne Machtworte. Die Kinder sollen lernen, dass es wen gibt, an den man sich in der Not wenden kann. Die beiden schreiben alle ihre Stücke selbst, und einen Polizisten gab es nie. Der bringt dramaturgisch wenig, denn Polizisten oder sonstige autoritäre Figuren sind entweder immer die Trottel (wie z. B. bei Otfried Preußler), oder der Polizist nimmt eine Figur aus dem Spiel, und dann ist die Schau aus.
Der Kasperl improvisiert.
Die kleine Kasperlbühne ist mobil und im Vorstellungsbetrieb vergleichsweise günstig. Sie kann überall aufgebaut werden und bringt diese «aufsuchende» Theaterkunst an verschiedenste Orte und zu Menschen, die sonst kaum Kontakt zu dieser Art Kunst haben. Wer sich übrigens ernsthaft mit dem Gedanken befasst, das Kasperltheater zum Beruf zu machen, sollte wissen, dass ein enormes Improvisationstalent gefordert ist. Die Puppen müssen über Nacht repariert werden, die Bühne wird an Orte gelotst, an denen eigentlich kein Platz zum Spielen ist. Einmal musste die Vorhangstange noch schnell zurechtgesägt werden, einmal spielte man in einer Garage zwischen Militärfahrzeugen. Und krank sein geht eigentlich nicht, denn den enttäuschten Kindern kann kein gleichwertiger Ersatz geboten werden. Privatleben im Sommer gibt es für die Puppenspieler_innen nur bei Regenwetter.
In dieser Flexibilität liegt jedoch auch einer der Clous des Kasperltheaters. Die Aufführungen in Parks und öffentlichen Orten sind meist kostenlos. Oft kommen Kinder mit gesenktem Kopf vor der Aufführung und fragen: «Wie viel kostet das denn jetzt?» Und sind überfroh zu hören: «Nix.» Der Gratisaspekt (viele Veranstalter übernehmen zur Gänze die Kosten für die Aufführungen) hilft Kindern gegen das deprimierende Gefühl des Ausgeschlossenseins durch den zu kleinen Geldbeutel der Eltern.
Ist der Kasperl altmodisch?
Danach gefragt, wie pädagogisch wertvoll denn die Abenteuer des Kasperl sind, wird von Tschermuth und Mayer sogleich betont, dass es nie einen erhobenen Zeigefinger gebe. Der bringe nichts und werde sogleich durchschaut. Sicherlich gehe es um psychosoziale Entwicklung, und die braucht eben den Dialog, das gemeinsame Finden von Lösungen. Die Kinder müssen immer das Gefühl haben, dass sie das Geschehen leiten. Am wichtigsten sei deshalb das Handwerkszeug.
Einen Kasperl mit der richtigen Handhaltung zu führen und ihm beizubringen, einen Gegenstand vom Tisch aufzunehmen, will geübt sein. Was dem Kasperl hinter die Bühne fällt, ist weg, denn an der zweiten Hand steckt die zweite Puppe, und die Handlung nimmt Schaden, wenn sämtliche Figuren die Bühne verlassen, um die verlorenen Gegenstände zu suchen.
Sehr wichtig sei auch die Story. Die muss packen, und die Entwicklung der Figuren muss gut nachvollziehbar sein. Es nützt ja nix, wenn die Hexe einfach rumzaubert, denn alles braucht klare Motivationen. Und natürlich die Sache mit dem Humor. Viele Stücke wurden beim «Jammen» entwickelt, und es geht darum, dass man auch selbst lachen muss. Nicht zuletzt ist es hilfreich, wenn es auch den Erwachsenen gefällt. Manchmal gibt es dann nach einer wilden Show schöne Komplimente, wenn die Eltern sehen wollen, wie viele Menschen denn eigentlich hinter der Bühne hervorgekraxelt kommen.
Ein guter Kasperl ist ein Löwenbändiger, denn er muss einerseits die Kindermeute zum Schreien und Kreischen bringen – ohne Mitmachaktivität geht es nicht, aber er muss die Kinder aber auch dann wieder einfangen können. Gegen Skeptiker braucht er ein dickes Fell. Vieles sei hier in den letzten Jahren schwieriger geworden. Manche Entwicklungen sind geradezu unheimlich. Dass die älteren Kinder gerne überheblich zum Kasperl sind, ist ein altes Phänomen. Eine heutige Kindheit vollzieht sich in einem anderen medialen Umfeld als in den 1920ern. Natürlich sind alle zu cool und haben schon zu viel gesehen. Manchmal kann ihnen der Kasperl aber einen Streich spielen und sie vor der Show belauschen, um die Großen dann zu verblüffen, weil er ihre Namen kennt. Dann sind auch sie plötzlich fasziniert.
Der Kasperl stellt Fragen.
Erschreckender ist ein andere Entwicklung: Den Kindern fällt es zunehmend schwer, sich auszudrücken. Das hat nichts mit ihrer Erstsprache zu tun, denn das Phänomen ist in Favoriten gleich wie in Hietzing. Wenn der Kasperl Fragen stellt, dann können ihm diese immer schwerer beantwortet werden. Die Kinder sind es in unserer Bildschirmwisch-Gesellschaft anscheinend nicht mehr gewohnt, Sachverhalte zu artikulieren und zu erklären. Der Kasperl muss dann viel nachfragen. Vielleicht sind es auch die immer schneller geschnittenen Kinderfilme, die die Fähigkeit rauben, mit vollständigen Sätzen und in der richtigen Reihenfolge zu antworten. Der Kasperl ist hier wohl etwas aus der Mode gekommen. Den Wandel zur Reizüberflutung hat er klugerweise nicht mitgemacht. Deswegen wäre es besonders schade, wenn viele seiner Bühnen nun ein Opfer von Covid würden, denn der Kasperl hört zu, kommuniziert, nimmt die Kinder ernst und ist immer auf ihrer Seite.
Foto: Eva Mayer