Auch unter der Brücke gibt’s Spießertun & lassen

Es gibt Städte, die Armut besser verstecken als Hamburg

Wo gibt’s die meisten Brücken in Europa?  Die am meisten Gebildeten unter uns würden zu debattieren beginnen. Zur Wahl stünden die Städte Venedig oder Amsterdam. Beide Nennungen stellen sich als falsch heraus. Hamburg besitzt 2100 Brücken, mehr als Venedig und Amsterdam zusammen. Nicht unwahrscheinlich, dass die Metapher für sozialen Absturz, «unter der Brücke landen», aus Hamburg stammt. Text und Foto von Robert Sommer.

Das Bedeutungsspektrum der Metapher weist über die Obdachlosigkeit hinaus. «Unter der Brücke» landet, wer zu faul, zu unfähig, zu blöd ist. Hans Meyer, Präsidiumsmitglied bei Borussia-Mönchen-Gladbach und Ex-Fußballtrainer, bestätigte das hartnäckige Klischee der im Fußball angesammelten Dummsprüche: «In jedem Kader gibt es fünf richtig blöde Spieler. Von denen würde einer auf jeden Fall unter der Brücke landen, wenn er nicht Fußball spielen würde.» (Aus: Die besten Sprüche des Hans Meyer).

«Unter der Brücke» ist aber auch ein Synonym für Dreckigkeit. In den Bewertungs-Seiten des Internet wimmelt es von Vergleichen verdreckter Hotelzimmer mit den Penner-Wohnzimmern unter den Brücken. Einer der Beschwerdeführer: «Mit meinen 43 Jahren habe ich so was noch nicht erlebt! Dreckig und versifft, wie man es sich nicht schlimmer vorstellen kann!! Man muss es wohl selbst erlebt haben, weil Worte für das zu finden ist unmöglich. Lieber im Auto schlafen! Oder unter der Brücke.» Ein anderer über eine ähnlich enttäuschende Unterkunft: «Jede Gefängniszelle, jedes Auffangheim für Asylanten und, ich glaube, sogar jeder Brücke für Penner hat mehr Charme und Sauberkeit als dieses Loch.»

Jedenfalls ist «unter der Brücke» die negative Bezugsgröße, wenn das Maß der Verwahrlosung des öffentlichen oder touristisch genützten Raums bezeichnet werden soll. In Wien ist die Metapher in den allgemeinen Sprachgebrauch integriert, jeder und jede verwendet sie, sie bleibt aber Metapher anstatt Benennung eines wirklichen Zustands. In Wien ist der öffentliche Raum unter schützenden Brücken den Nachtquartier suchenden Wohnungslosen mehr oder weniger versperrt. Anders in Hamburg. Die bekanntesten von Obdachlosen okkupierten Hamburger Brücken sorgen in doppeltem Sinn für einen Einbruch der Realität in die von uns unbewusst angewandte Sprache. Der erste Einbruch ist die Erfahrung, dass sich die Wirklichkeit durchaus mit der Metapher beschreiben lässt: Das «Leben unter der Brücke» ist dann – je nach sozialer Positionierung des Sprechers oder der Sprecherin – keine romantisierte oder verabscheute Vorstellung mehr, sondern etwas wirklich Stattfindendes: Die Betroffenen sind wirklich unter einer konkreten, vor Regen schützenden Brücke gelandet. Der zweite Einbruch der Realität wird erfolgen, wenn man nach dem sprichwörtlichen Dreck sucht, in dem die Brückenbewohner_innen vermeintlich leben.

Die Platte der Kennedybrücke

Man wird nicht ärgeren Dreck finden als auf dem Hamburger Hauptbahnhof, der entschieden schmutziger ist als sein neues Wiener Pendant, um auch einmal was Gutes über das Näherliegende zu sagen. Die Hamburger Schwesterzeitung des Augustin, das um wenige Jahre ältere «Hinz&Kunzt», dokumentiert: «Ein Blick aus der S-Bahn kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof genügt, um zu erkennen, dass Obdachlose neben der Kennedybrücke leben. Sechs Zelte und ein Grill stehen dort. Auf der Wiese daneben kein Leergut, kein Abfall, kein alter Hausrat. Die ‹Kennedys› gelten als die Spießer unter den Obdachlosen. Ihre ‹Platte› ist praktisch immer sauber. So läuft das seit Jahren. Probleme mit der Obdachlosen-Gruppe gab es so gut wie nie.» (August-Ausgabe 2016). Als Spießer gelten sie auch deswegen, weil sie ihre Parzelle unter der Brücke in eine Art privates Schrebergartenparadies verwandelt haben, in die man Fremde nur ungern eindringen lässt.

Im Juli dieses Sommers geschah etwas im Zusammenhang mit der freien Republik Kennedybrücke, was in Wien nach unseren Erfahrungen unvorstellbar ist. Ein Polizeibeamter hatte dem obdachlosen Pärchen Rolf und Emma einen Räumungsbescheid in die Hand gedrückt. Rolf war völlig entgeistert. «Wir haben doch niemanden belästigt», erzählte er im Gespräch mit «Hinz&Kunzt». Seit Dezember 2015 habe er mit seiner Freundin auf einen Platz in der Öffentlichen Unterbringung gewartet. Damals hatten sie die Fachstelle aufgesucht und sich obdachlos gemeldet. Beim Bezirksamt und bei der Polizei zeigte man sich – konfrontiert mit dieser «Delogierung» aus dem Brückennotstandsheim – überrascht. Die Obdachlosen zu vertreiben, sei nie beabsichtigt gewesen, hieß es einen Tag später aus der Bezirksverwaltung. Wenige Stunden vor der anberaumten Räumung klärte die Polizei den «Fehler» endlich auf. Ein Beamter habe «eigenmächtig gehandelt», ob in böser Absicht oder aus Unerfahrenheit, könne man noch nicht sagen. Die Vertretung der städtischen Politik und der Polizei mussten sich bei den beiden Elbe-Sandler_innn entschuldigen. Da wird noch viel Weasser die Elbe hinunterfließen, bis sich an der Donau Ähnliches erzählen lässt. Und das, obwohl die Donau deutlich schneller fließt.

Sozialarbeiter_innen schätzen, dass es in Hamburg etwa 2000 Obdachlose gibt, die tatsächlich im Freien schlafen, ob es regnet oder schneit – vielleicht achtmal mehr als in Wien. Achtmal länger als vor den Wiener Sandler_innen-Versorgungsbussen sind auch die Menschenschlangen der auf den Hamburger «Mitternachtsbus» Wartenden. Jeden Abend fahren Ehrenamtliche mit diesem Gefährt der evangelischen Diakonie durch die Hamburger Innenstadt, um Obdachlose mit dem Nötigsten zu versorgen – und das seit 20 Jahren. Dieser Tage wurde das Sozialprojekt mit einem beachtlichen Preis ausgezeichnet. Es finanziert sich zu hundert Prozent aus Spenden. Ein Team von über hundert Ehrenamtlichen fährt in abwechselnden Schichten zu den Schlafplätzen obdachloser Menschen.

Die Obdachlosen der Reeperbahn

Einem Wiener Städtetouristen fällt auf, dass Stadtpolitik in Hamburg offensichtlich Wichtigeres zu tun hat als die Vertreibung von Randgruppen, Trinkenden, Flüchtenden, Kranken aus den Zonen gehobenen Konsums. Aus kritischer wienerischer Sicht ist die Nonchalance, mit der die Dauerpräsenz von absoluter Armut in den urbanen Zentren geduldet wird, eine Vorgabe. Die Entscheidungsträger scheinen eingesehen zu haben, dass eine Politik der Unsichtbarmachung der Armut, wie man sie in Wien probiert, immer illusorischer wird. Nur mehr St.-Pauli-Besucher_innen aus Wien, Wieselburg und Winterthur scheinen sich zu wundern, dass Punks unbehelligt auf den Gehsteigen der berühmtesten Konsummeile Europas, der Reeperbahn, in ihren Schlafsäcken die Nachtruhe bis weit in den Vormittag hinein strecken können.

Zwei Entwicklungen relativieren dieses Bild einer Stadt, in der einiges erlaubt ist, was in anderen kriminalisiert wird. Die eine ist die Irritation, die auch hier der Zustrom von Hoffnungslosen aus dem südosteuropäischen Raum und von Heimatlosen aus dem nahöstlichen Raum auch in den Köpfen der gastfreundlich und solidarisch gestimmten Menschen des Gastlandes hinterlässt. Selbst Macher_innen von Straßenzeitungen fragen sich, ob universales Denken verantwortliches Denken bleibt, wenn es diese Universalität verlangt, die Interessen der aus dem Südosten Eingewanderten, ethnisch etwa als rumänische Roma identifizierbar, für genauso vertretbar zu halten wie die der angestammten Straßenzeitungsverkäufer_innen. Letztere spüren natürlich den neuen Wettbewerb auf der Straße, den die «Konkurrenzzeitung» verursacht, die ausschließlich von den Armutstourist_innen aus Südosteuropa kolportiert wird. Die «Hinz&Kunzt»-Redaktion ist nun Vorwürfen von links ausgesetzt, sie verteidige Partikularinteressen ihres eigenen Zeitungsvertriebsteams auf Kosten der Neuankömmlinge aus dem Balkan, die – weil sie auch «Hinz&Kunzt» nicht verkaufen dürfen – ganz oben auf der Sündenbockliste stehen.

Ein Überfall auf die legendäre Hafenstraße

Die zweite Entwicklung betrifft die Menschen mit dunkler Hautfarbe, ausgenommen vielleicht die vielen schwarzen und durchaus beliebten Profikicker und die in den Bankenvierteln vorkommenden Krawattenträger unter den Afro-Hamburgern. Derzeit herrscht in Hamburg «Krieg gegen den Drogenhandel», so nennen die Zeitungen links wie rechts die Razzien gegen die ihr Überleben organisierenden Migrant_innen aus Afrika. Eine dieser martialischen Menschenjagden schwer bewaffneter Polizeieinheiten in den letzten Wochen wird ein juridisches Nachspiel haben. In der legendären Hamburger Hafenstraße, dem bekanntesten Ensemble besetzter Häuser Deutschlands, hatten 267 Beamte das Wohnprojekt am Rande des Bezirks St. Pauli, das längst seine ursprüngliche Schmuddeligkeit abgelegt hat und von der Genossenschaft «Alternativen am Elbufer» verwaltet wird, wie im Stil eines Antiterroreinsatzes gestürmt und 34 Afrikaner festgenommen.

Tatsächlich fand man bei ihnen 91 Gramm Marihuana, eine Ware, die man anderswo rechtmäßig dealen kann. Ein Anwaltsbüro ist draufgekommen, dass die Razzia auf der Basis eines veralteten Hausdurchsuchungsbeschlusses erfolgte; die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes habe in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken sollen, die Hafenstraße sei von Schwerverbrechern bewohnt. Im Schatten der medialen Aufmerksamkeit, die die Hafenstraße genießt, liegt der Hansaplatz im St.-Georgs-Viertel. Junge Männer aus Schwarzafrika und dem arabischen Raum dominieren hier das Stadtbild. Dass sie – gelangweilt beobachtet von den Yuppies in den vier Gentrifizierungs-Kneipen am Platz – jederzeit mit einer polizeilichen Kontrolle rechnen müssen, macht Hamburg irgendwie wiengleich. Und das schmerzt einen Besucher, der nun seine Suche nach Orten, in denen man ohne Angst anders sein kann, fortsetzen muss. Es wird wohl eine ziemlich ewige Angelegenheit werden.