Auf Daubenjagdvorstadt

Stockschießen: ein Sport, der mittlerweile mehr auf Asphalt als auf Eis ausgeübt wird

Auf das agile Alter folgt das fragile: Mit etwa 80 Jahren setzen unvermeidlich die Gebrechen ein. Vieles geht dann nicht mehr. Doch Stockschießen geht noch, das beweisen zumindest die Senior_innen des Eis- und Stocksportvereins Ottakring, wovon sich Wenzel Müller (Text und Fotos) bei einem Trainingsbesuch überzeugen konnte.

Erwin ist dran. Etwas unwillig erhebt er sich aus seinem Sessel, so schön sei er doch gerade gesessen. Er nimmt seinen Sportstock in die Hand und schreitet zur Abspielstelle. Ein paar Mal schwingt er das Spielgerät hin und her, dann lässt er es aus der Hand – und schickt es auf einer 24,5 Meter langen Bahn in Richtung Daube, dem runden Zielpunkt, platziert im Mittelkreuz des Zielfeldes. Ein Meisterschuss. Sein Stock kommt genau neben der Daube zu stehen. Typisch Erwin. Wieder einmal ist ihm das Anspiel perfekt gelungen. Obwohl schon 86, hat er immer noch ein gutes Auge und dazu das rechte Gefühl in seinem Arm.
Zufrieden macht Erwin kehrt und setzt sich wieder auf seinen Sessel. Auch im Alter versteht er es noch, «auf Maß» zu schießen. Nun ist die gegnerische Mannschaft am Zug.

«Schießen» kann durch nichts ersetzt werden.

Es ist Montagnachmittag. Die Senior_innen des Eis- und Stocksportvereins Ottakring (ESV Ottakring) haben Training. Nicht etwa in Ottakring, sondern in Penzing, dort befindet sich ihre Anlage. Auch spielen sie nicht auf Eis, sondern auf Asphalt, der vormalige Wintersport ist mittlerweile ein Ganzjahressport. Und Training, das bedeutet hier nicht etwa, mit Aufwärmübungen zu beginnen und daran ein Programm unter Anleitung eines Trainers anzuschließen. Nein, die Senior_innen, alle um die 80, kommen gleich zur Sache. Nachdem sie zwei Mannschaften gebildet haben, beginnen sie mit dem Spiel. Einem Spiel, das an Boggia erinnert. Auch beim Stockschießen kommt es darauf an, das Spielgerät – in diesem Fall keine Kugel, sondern eben einen Stock – möglichst nahe an die Daube zu bringen.
Man spricht von «Stockschießen» oder einfach nur «Stocksport». Immer wieder werden Anstrengungen unternommen, das Wort «schießen» zu verbannen, weckt es doch nicht gerade die freundlichsten Assoziationen, und es durch «werfen» zu ersetzen. So edel die Absicht, so wenig Erfolg ist diesem Unterfangen bislang beschieden. Zu sehr behauptet sich die gelebte Tradition.
Gregor Walentin ist so wie Erwin Mitte 80 und gehört zu den Gründungsvätern des ESV Ottakring, welcher heuer sein 70-jähriges Jubiläum feiert. Gregor kam als Kind nach Wien, vertrieben aus der Slowakei. Er hat in der Nachkriegszeit noch erlebt, wie die Alte Donau regelmäßig im Winter zufror. Mit dem natürlichen Terrain ist es in Wien vorbei, seit die strengen Froste ausbleiben.
Eines Tages, erzählt Gregor Walentin, hätten Eisstockfreunde von ihm Arbeiten im Trainingskeller des Stemmweltmeisters Höbel ausgeführt. Dabei kamen sie ins Gespräch. Was eigentlich mit dem Grünstreifen oben neben dem Fußballplatz sei? Ja, der sei noch frei. Würde sich ja bestens für eine Stockbahn eignen, sagten die Stocksportler. Gespräche mit der Stadt wurden aufgenommen, und so kam der ESV zu seiner eigenen Anlage, in Penzing. Das war Mitte der 1970er-Jahre.
Auf der einen Seite grenzt ein Fußballplatz an, auf der anderen eine Skateranlage. Dazwischen das Stockgelände, recht nett mit (selbst gebauter) Vereinshütte, doch unübersehbar eben auch eine Art Schlauch. Ein großer Verein präsentiert sich anders. Ja, Stockschießen gehört in Wien nicht gerade zu den populären Sportarten.

Ruraler Sport.

Zu Hause ist dieser Sport auf dem Land, in den Bundesländern. Mit ihm, sagt man, hätten einst Bauern und Handwerker ihre winterliche Pause überbrückt. Männer also, die körperliche Arbeit gewohnt waren und Kraft hatten. Und auf Kraft kommt es beim Stockschießen an. Ein Stock wiegt um die vier Kilogramm, und es kostet schon einige Anstrengung, dieses Gewicht überhaupt ins Zielfeld zu bringen.
Die Laufsohlen der Stöcke können mit unterschiedlichen Platten bestückt werden, mit leicht- und schwergängigen. Was so eine echte steirische Eiche ist, greift selbstverständlich nur zur schwerstgängen, ist so sein Stock doch von dort, wohin er ihn befördert hat, kaum durch einen gegnerischen Schuss wegzubekommen.
Nun sieht es mit der Kraft bei unserer Senior_innengruppe nicht mehr so gut aus. Also greifen alle zu leichtgängigen Platten. Außerdem darf jeder den Abspielpunkt, der eigentlich fix vorgegeben ist, individuell wählen, je nach Alter und verbliebener Kraft. Ist ja nur Training, kein Turnier. Außerdem geht es ihnen in erster Linie darum, etwas Bewegung an der frischen Luft zu haben.
Früher ist Erwin Ski gefahren und hat Tischtennis gespielt. Beides geht nicht mehr, das eine ist ihm inzwischen zu gefährlich, das andere zu schnell. Aber das Stockschießen, das geht noch, zumal es hier immer eine Pause mit Jause und Kaffee gibt.
Das Kreuz schmerzt, das Gehen fällt schwer – trotzdem kommt Heldemar regelmäßig zum Training. Mit 94 Jahren ist er hier der Älteste. Gewiss, sein Schuss war schon einmal kräftiger. Doch das Schwingen des Stocks, samt Ausfallschritt, das hat er immer noch im Blut.
Befindet sich der Stocksport in Wien auch auf einem absteigenden Ast – früher gab es hier 23 (Eis-)Stockvereine, heute sind es nur noch 13. Und bleibt der Nachwuchs aus – die Alten zeigen sich höchst aktiv. 

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