Auf dem Weg zum VerfassungsgerichtshofDichter Innenteil

Endlich am Ziel (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen, 405. Folge

Er befinde sich seit Tagen in schlechter Verfassung, esse wenig, schlafe schlecht, auch das Allheilmittel für schwarze Tage namens Zweigelt lasse seine belebende Wirkung vermissen, klagte Herr Groll. Er müsse etwas unternehmen, um seine Verfassung aufzumöbeln. Am besten, ich wende mich an den Verfassungsgerichtshof, sagte er sich und machte sich auf in die City.
Auf dem kleinen Weihnachtsmarkt vor der Apotheke zur «Lieben Frau bei den Schotten», die damit warb, auch Heilmittel der traditionellen chinesischen Medizin zu führen, hielt Groll vor einem Stand mit Süßigkeiten an. Ob er auch Krachmandeln anbiete, fragte Groll den Verkäufer. Der Mann schüttelte den Kopf. Ob sie nur heute ausverkauft seien, ob die Chancen an anderen Tagen besser seien, fragte Groll weiter. Wieder schüttelte der Mann den Kopf. Zweimal trug Herr Groll sein Anliegen vor, das Ergebnis war immer das gleiche, der Mann schüttelte den Kopf. Und er schwieg. Der Dozent hegte einen Verdacht, er fragte den Mann, in welcher Stadt er sich befinde. Wieder schüttelte der Mann den Kopf.
Seinem Aussehen nach zu schließen, kommt er aus dem tiefsten Waldviertel, das volle und wirre Haar glänzt tintenschwarz, die großen dunkelbraunen Augen flackern etwas, sie stehen in schönem Kontrast zur hellen Haut, dachte Groll. Der Verkäufer war nicht groß, aber er hatte breite Schultern und seine Hände zeugten von schwerer Arbeit. Vitis, Rapottenstein oder Göpfritz an der Wild, tippte Groll, der sich kurz mit dem Dozent beriet. Da sprach der Mann ein Wort laut und bestimmt aus: «Kaiseri», sagte er. Dann wiederholte er das Wort drei Mal. Seine Stimme war guttural und wohlklingend.
Es gebe in Wien keinen Kaiser mehr, antwortete Herr Groll, obwohl manche dies angesichts des Corona-Chaos bedauerten. Immerhin gäbe es einen adeligen Bundeskanzler, die Richtung stimme also. Die Habsburger hätten vorsorglich immer mehr als zehn Kinder großgezogen, an der Zahl der potentiellen Thronfolger mangle es also nicht. Wieder sagte der Hüter der Süßwaren das Kaiser-Wort.
Nun machte der Dozent sich daran, die Lage zu klären. Es gebe die Kaisergruft und die Privatgemächer des Kaisers in der Hofburg, beide seien nicht weit entfernt, versuchte er sein Glück.
«Kaiseri», sagte der dunkelhaarige Verkäufer erfreut. «Kaiseri! Kaiseri!»
So ging das noch einige Male hin und her. Herr Groll drängte zum Aufbruch. Die Verfassungsrichter hätten eben das Gebäude betreten. Der Kaiser müsse nun zurückstehen. Da hatte der Dozent eine Eingebung. Er holte sein Tablet hervor und tippte etwas ein. Während er las, entspannten sich seine Züge. Schließlich wandte er sich mit einem Lächeln an seinen Freund: «Unser Freund meint Kayseri mit y», stellte er fest. «Kayseri ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Kappadokien in der Türkei. Die Stadt zählt 1,5 Millionen Einwohner, sie liegt auf tausend Meter Seehöhe. Der nahe Erciyes Dağı, ein erloschener Vulkan, ist 3.916 Meter hoch, er prägt das Bild der Stadt. Seit fünfzehn Jahren wird er für den Wintertourismus ausgebaut. Wenn die Gletscher in den Nordalpen abgeschmolzen sind und die Schneegrenze in Salzburg und Tirol auf 4000 Meter steigt, erhofft man sich einen Schub an europäischen Wintertouristen.»
«Kayseri! Kayseri», bestätigte der Verkäufer.
«Kayseri weist eine bedeutende Geschichte seit der Antike auf, die Stadt punktet aber auch mit einer der ältesten psychiatrischen Kliniken der Neuzeit, in ihr wurde schon um 1900 Musiktherapie angewandt», fuhr der Dozent fort.
«Kayseri», meinte der Verkäufer und nickte mit ernster Miene.
«Die Stadt weist nicht nur drei Universitäten auf, das Industriegebiet gilt als das größte der Türkei», las der Dozent vor. «Kayseri ist ein Verkehrsknotenpunkt. Flüge von Wien gibt es um die 130 Euro, die Entfernung von Wien beträgt 2.340 Kilometer. Kayseri ist damit von Wien so weit entfernt wie Madrid und etwas weniger weit als Zypern.»
Der Verkäufer schwang seine Arme. «Die Schwingen des Adlers», sagte Herr Groll.
«Kayseri», bestätigte der Verkäufer stolz.
«Die Stadt ist berühmt für ihren Rindfleisch-Schinken, die Knoblauchwurst Sucuk und die gefüllten Teigtaschen Manti», fuhr der Dozent fort
«Kayseri! Kayseri!», bestätigte der Verkäufer und stieß mit einer Hand an einen Stoß Blätterteiggebäck. Mehrere durchsichtige Säckchen kollerten vor Grolls Nase.
«Krachmandeln aus Kayseri», rief er aus und zückte seine Brieftasche.

Translate »