Auf der Suche nach SolidaritätDichter Innenteil

Chilip in Druk Yul (6)

Dzongkha, Bhutans Landessprache, ist mir ein großes Rätsel, und Rätsel faszinieren mich. So habe ich mir in den Kopf gesetzt, ein paar Worte schreiben zu lernen.

Foto: Namgay Tshering

Begonnen hat das mit dem akribischen Kopieren des vielleicht bekanntesten Mantras im tibetischen Buddhismus, wie er hier praktiziert wird. Das Mantra des Mitgefühls vereint alle Mantras und Gebete in sich – Om mani padme hum. In tibetische Schrift gegossen wird mir das Mantra zum unergründeten Universum:

Chilip_Om_Mani_Padme_Hum_mantra.jpg

Welche Worte wählen, um stundenlang die Zeichen zu kopieren, bis ihre Form in die Bewegungen der Hand übergehen; welche Worte werden auch nach unablässiger Wiederholung nicht zuwider? Ich wähle sorgfältig (dabei wenig überraschend) Freiheit, Schönheit, Liebe, Solidarität. Meine Nachbarn erweitern das Vokabular um Erleuchtung – das würde ihnen, groß auf einer Wand stehend, ein Lächeln bereiten (nein, «Street Art» ist hier nicht sichtbar, ein futuristisches 1st Feb 2020, laienhaft aus der rost-roten Mauer des Youth Development Funds gekratzt, vielleicht ausgenommen). Die Transkription ist hitzig – die Komplexität des Dzongkha schlägt mir in Form einer unverständlichen Diskussion um Wortwahl und Bedeutungsfeinheiten entgegen. Am Ende fehlt ein Wort: Solidarität. Ich versuche das Konzept zu erklären. Kopfschütteln. Nein, dafür gäbe es kein Wort in Dzongkha. Am nächsten Morgen konfrontiere ich meine Kollegin mit derselben Frage. Ich erkläre, sie schüttelt den Kopf. Das Online-Wörterbuch schlägt zwei Varianten vor, zusammengesetzt aus jeweils «eine_r» – einmal mit «Abgespaltenheit», dann mit «Verbindung». Ein perfektes Gegensatzpaar. Vereint Solidarität, meinem Verständnis nach eine tiefe Verbundenheit zu einer Gesellschaft, in der Verantwortung zu und Recht auf gegenseitigen Respekt und Hilfe zur Maxime werden, Verbindung und Loslösung in sich? Wenn die Verbindung zu einer Gesellschaft als Ganzes Freundschaften transzendiert, löst sich damit Solidarität von der persönlichen Zuneigung? Zurück zu Dzongkha: Was bedeutet eine Sprache ohne Solidarität für ihre (Sprach-)Gemeinschaft? Findet Solidarität in der buddhistischen Tradition Platz? – Mitgefühl scheint mir auf einer anderen Ebene, mehr gönnerhaft, als Anrecht. Gleichzeitig wird im tibetischen Mahayana-Buddhismus die Gesellschaft vor das Individuum gestellt. Vielleicht verstehe ich buddhistisches Mitgefühl noch nicht – weil mein (Verständnis von) Mitgefühl zu Deutsch ist, und nicht Dzongkha. Ich suche weiter …

Marisa Kröpfl schreibt aus Druk Yul (Königreich Bhutan) von ihren Eindrücken als Chilip, wie Ausländer_innen im Land des Donnerdrachen genannt werden.