Auf Grätzltour: Backstreet Guides meet SozialministerBoulevard-Blog

Foto: Jenny Legenstein

Die Backstreet Guides machen Stadtführungen zum Thema Obdachlosigkeit. Sie erzählen aus erster Hand, wie es ist auf der Straße zu leben. Diesmal ist Sozialminister Rauch Teilnehmer bei Sandras Führung, die am Praterstern beginnt.

«Welche drei Dinge nimmst du auf jeden Fall mit, wenn du plötzlich obdachlos würdest?», fragt Sandra in die Runde. Eine warme Jacke, gute Schuhwerk, einen Schlafsack, Essen, etwas zu trinken kommen Antworten der Besucher:innen von Sandras besonderer Stadtführung. Eine Decke, Regenschutz, meint Sozialminister Johannes Rauch (Grüne), der an diesem kühl-windigen Montag an Sandras Grätzltour teilnimmt. Kleidung, Schlafsäcke, Nahrung usw. bekomme man leicht über soziale Einrichtungen erklärt Sandra, die zwei Mal in ihrem Leben auf der Straße lebte. Ganz wichtig seien Papiere und Ausweis, ein Handy oder Adressbuch sowie «ein Ding, das dir persönlich am Herzen liegt» – z. B. die Lieblingsmusik aufs Mobiltelefon laden, ein Buch, ein Foto, … «etwas, das dir hilft, dass es dir ein bisschen besser geht.»

Sandra ist eine von derzeit vier Backstreet Guides, einem selbstorganisierten Verein ehemaliger Obdachloser, die Grätztouren zum Thema Leben auf der Straße durchführen. Der Augustin stellte die Backstreet Guides in einer Coverstory im April 2022 in Ausgabe 549 vor. Die Guides erzählen von ihren Erfahrungen in der Wohnungslosigkeit an Orten, die damals für sie relevant waren, sie weisen auf Einrichtungen hin, die obdachlosen Menschen unterstützen. Nicht zuletzt sehen die Backstreet Guides ihre Aufgabe darin, aufzuklären und mit Vorurteilen aufzuräumen. Es sei nicht eine bestimmte Art Leute oder Schicht, die betroffen sei. «Obdachlosigkeit kann jeden treffen», sagen Sandra und Hedy, die heute ihre Backstreet-Kollegin begleitet. Gebucht werden die Backstreet Guides von Wiener:innen, Tourist:innen, von Firmen, oft auch von Schulklassen. Heute ist, wie erwähnt, Minister Rauch mit von der Partie. Deshalb haben die Guides auch ein paar Pressevertreter:innen und Mitarbeiter:innen einiger sozialer Einrichtungen eingeladen bei der rund zweistündigen Führung mitzugehen.

 

Praterstern als zentraler Punkt

 

Treffpunkt ist im Bahnhof Praterstern. Für Obdachlose ist das auch in der Gegenwart ein zentraler Punkt, für Sandra war die Umgebung in ihrer ersten Obdachlosigkeit ein paar Wochen ein Zuhause.

Am Praterstern (Foto: JL)

 

55 Jahre ist Sandra alt, sie hat zwei erwachsene Töchter, derzeit wohnt sie in einer betreuten WG, sie möchte gern mit ihrer Schwester in eine leistbare Wohnung ziehen. Sandra wuchs in einem von Nonnen geführten Kinderheim auf, war bei einer nicht liebevollen Pflegefamilie untergebracht, dann nahm sie ihr cholerischer und gewalttätiger Vater zu sich. Mit zehn packte sie ihr Bündel und haute ab, in der Venediger Au schlug sie sich ein paar Wochen durch bis die Polizei sie aufgriff. Zurück ging’s zu den Nonnen, die Nächstenliebe und Fürsorge nur als Wort, nicht als Haltung und Tätigkeit kannten. Später lebte sie mit ihrer Mutter, trotz aller Schwierigkeiten hat Sandra diese Zeit als gute in Erinnerung. Bis der Freund der Mutter einzog, mit ihm verstand sich Sandra gar nicht, nach einem Streit verließ die Jugendliche die Wohnung, lebte vom Schnorren und wurde von einer Gruppe Punks aufgenommen. Irgendwann wollte sie aber doch ein sogenanntes geregeltes Leben, einen Beruf, eine Familie. Ihr gelang der Einstieg in die «normale Gesellschaft».

 

In den 2. Bezirk hinein

 

Inzwischen sind Sandra, Hedy und die Teilnehmer:innen der Führung aus dem (sehr lauten) Bahnhofsgebäude heraus, machen Halt im Park in der Venediger Au. Sandra erzählt aus ihrem Leben, auch davon wie sich wohnungslose oder obdachlose Menschen Hilfe holen können. Sie winkt ein paar Streetworker:innen heran, die gerade ihre Runde drehen. Sie stellen kurz ihre Arbeit vor.

Es geht weiter in den 2. Bezirk hinein, Sandra und Hedy geben Auskunft, andere Teilnehmer:innen ergänzen die Ausführungen, stellen Fragen. Minister Rauch hört aufmerksam zu, hat die eine und andere Frage und verweist u. a. auf «Housing First». Als ehemaliger Sozialarbeiter hat Johannes Rauch wohl mehr Wissen um Armut und Obdachlosigkeit als viele seiner Kolleg:innen auf der Regierungsbank. Wünschenswert wäre, dass gerade Politiker:innen, die am liebsten das Recht aufs Einfamilienhaus in die Verfassung schreiben würden, und Sozialhilfebezieher:innen Leistungsverweigerung unterstellen, Menschen wie Sandra zuhören und aus erster Hand erfahren, was Armut bedeutet.

 

EU will Obdachlosigkeit beseitigen

 

Die EU will bis 2030 die Obdachlsosigkeit beseitigen. Das beschloss das EU Parlament am 24. 11. 2020 (https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20201120IPR92124/eu-soll-obdachlosigkeit-bis-2030-beseitigen). Wohnen ist ein Menschenrecht. Die Obdachlosigkeit ist gestiegen, sie ist eine der schwersten Formen von Armut stellt die EU-Kommission fest, die EU-Länder sind aufgefordert Obdachlosigkeit zu entkriminalisieren. Die EU-Staaten müssen die Lage evaluieren, Geldmittel zur Verfügung stellen, Pläne zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit erstellen und umsetzen.

 

Versteckte Wohnungslosigkeit

 

Sandras Tour endet auf dem Volkertplatz. Hier gibt es ein Jugendzentrum und einen Frauentreff. An dieser Stelle geht Sandra auf die «versteckte Wohnungslosigkeit» ein, von der Frauen besonders betroffen sind. «Frauen bleiben in gewalttätigen Beziehungen oder gehen Beziehungen mit Männern ein, die nicht gut für sie sind, um nicht auf der Straße zu landen» erklärt sie. Weil sie meistens wenig verdienten, können sich Frauen oft eine eigene Wohnung nicht leisten. Oder Jugendliche bleiben bei ihren Eltern, obwohl es zuwenig Platz in der Wohnung gibt.

Am Volkertplatz (Foto: JL)

 

Am Ende stellt Johannes Rauch ein Frage in Anspielung auf Sandras Frage am Anfang: Welche drei Dinge fordert sie als ehemalige Obdachlose von der Politik. Sandra: «Es braucht viel mehr niederschwellige Informationen und Angebote für obdach- und wohnungslose Menschen. Wir benötigen mehr Räume für Jugendliche und Frauen. Und die Betroffenen sind die Expert:innen, sie wollen zu ihren Erfahrungen, Vorstellungen, Ideen von der Politik gefragt und gehört werden.»

www.backstreet-guides.at

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