Auf unstetes Gelände wagenArtistin

Olja Alvir hat ihren ersten Lyrikband Spielfeld herausgebracht. Als Autorin, Journalistin, Wissenschaftlerin, Aktivistin, Übersetzerin ist sie auf und zwischen vielen (Spiel-)Feldern unterwegs. Ein Gespräch über das Schreiben, Mehrsprachigkeit, die Falltür der Identität und den Traum von der gerechten Gesellschaft.

INTERVIEW: JENNY LEGENSTEIN
FOTO: JANA MADZIGON

Ihr Gedichtband heißt «Spielfeld». Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen?

Olja Alvir: Vielleicht ist das eine ­Marotte, aber ich finde einfach bestimmte Wörter schön und interessant, die verzaubern mich, und das Wort Spielfeld ­gehört dazu. Ich mag den Geschmack von diesem Wort. Es dient auch als ­Metapher für Sprache, denn sie ist in meinem aktuellen Schaffen eine Art Spielfeld, auf dem man sich austoben, kreativ sein kann, wo man ohne Angst Dinge aus- und anprobieren kann. Wo man sich vielleicht sogar frei von Konsequenzen bewegen kann.
Und natürlich ist es für mich bizarr, dass ein historisch bedeutsamer Grenzübergang zwischen Österreich und Slowenien dann ausgerechnet Spielfeld heißt. Weil eine Grenze für mich etwas Gewaltvolles ist, eine arbiträre, zerstörerische Machtausübung. In diesem Spannungsfeld zwischen Spiel und Schauer steht mein Buch.

Sie schreiben in mehreren Sprachen, warum ist Ihnen das wichtig?
Mehrsprachigkeit scheint etwas zu sein, das mein Schreiben allgemein charakterisiert. Es ist unausweichlich, weil mein Denken von den vielen Sprachen, die in meinem Leben relevant sind, stark geprägt ist. Wenn ich versuchen würde, so zu schreiben wie jemand, der nicht mehrsprachig aufgewachsen ist, ­müsste ich etwas bewusst rausnehmen, und das möchte ich mittlerweile auch nicht. Ich denke, das mehrsprachige Schreiben ist auch eine Art Rebellion gegen die eingrenzende Festlegung, gegen eine starre Konstruktion von Identität. Diese kann man sehr gut mit Sprachspielen ins Wanken bringen. Das gefällt mir.

Lyrik ist heute eher ein Randprogramm, kommerziell gesehen auf jeden Fall. Trotzdem schreiben viele Menschen Gedichte, vielleicht deshalb, weil Lyrik Freiheit, Offenheit bietet, anders als Prosa. Warum schreiben Sie Lyrik?
Im allerersten Lockdown 2020 – es war für uns alle eine besondere und merkwürdige Zeit, aber für mich im Speziellen deshalb, weil ich alleine in Zagreb festsaß und nicht nach Wien zurückkommen konnte – begann ich, Gedichte meiner Kollegin Katja Grcić aus dem Kroatischen ins Deutsche zu übersetzen. Und was ich beim Übersetzen von Gedichten mache, ist viele Übersetzungsmöglichkeiten zu generieren. Ich schreibe vier oder fünf verschiedene Möglichkeiten eines Verses auf, bis ich eine finde, die mir gefällt. Dieser kreative Arbeitsprozess hat mich auf den Geschmack gebracht. Auch die Freiheit der Lyrik, die Sie erwähnt haben, hat mich verzaubert, genauso wie die Tatsache, dass ich mich auf ein unsicheres, unbekanntes oder unstetes Gelände wage. Prosa ist zwar nicht einfacher zu schreiben, aber man fühlt sich mehr an der Hand genommen, weil es eine Erzählposition gibt, eine Erzählstimme, meist auch klar umrissene Charaktere. Während man in der ­Lyrik mehr herumschweifen kann – oder herum­stolpern. Das war in dem ­Moment in meinem Leben eine angemessene und ­angenehme Art sich zu bewegen. Auch der ökonomische Aspekt, eben die ­Tatsache, dass es ein Randprogramm ist, gibt ­einem ganz viele Freiheiten, die es anderswo so nicht gibt.

Sie wurden im ehemaligen Jugoslawien geboren, sind also jemand mit «Migrationshintergrund». Migration, Flucht sind auch Themen, mit denen Sie sich beschäftigen in wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch in journalistischen und literarischen Texten. Ist es manchmal auch nervend, weil Sie sicher oft zu diesem Thema befragt werden?
Ich bin froh über diese Frage, das Stichwort «nerven». Es gibt und gab eine Art Entwicklung des Migrationsthemas und des öffentlichen Umgangs damit. In der Zeit, als ich meine berufliche Laufbahn begonnen habe, war der Migra­tionshintergrund gerade das ­interessante Thema schlechthin. Damals sind die ersten Journalist:innen mit sogenanntem Migrationshintergrund vor den Vorhang gekommen und man hat sich erstmals bewusst gemacht, dass es in der Bevölkerung Menschen gibt, die mehrsprachig sind, die woanders geboren sind, andere Lebenserfahrungen und Perspektiven haben und so weiter. Es war vielleicht sogar ökonomisch und auch karrieretechnisch klug zu sagen: Hallo, ich bin die Migrantin, ich bin hier die Expertin. Heute, eine paar Jahre später, wo sich der Diskurs verändert hat, auch in Richtung Diversität und Selbstverständlichkeit von Vielheit, sehe ich viele Dinge anders, besonders im Bezug auf Identität und den Drang, sich zu ­definieren. Und ich nehme tatsächlich bei mir einen ­inneren Widerstand wahr, über Herkunft zu reden, eben aus dem Grund, nicht in eine Schublade gesteckt werden zu wollen. Ich bekomme durchaus Anfragen, wo ich gebeten werde, als Repräsentantin dieser oder jener marginalisierten Gruppe, der ich wohl angehöre, aufzutreten, wo ich mir denke – das ist so einseitig. Ich bin nicht nur die Feministin oder die Geflüchtete. Und wir alle sind komplexe, auch widersprüchliche Individuen. Niemand möchte so reduziert werden. Ich glaube, dass meine Gedichtsammlung auch von dieser Problematik erzählt, eben dadurch, dass sie sich nicht auf eine Sprache festlegen ließ. In einigen Gedichten, etwa in «das ich ist eine provinz», spreche ich davon, wie es ist, nicht wissen zu müssen, wer man ist, und es vielleicht auch nicht sagen zu wollen. Das hat sich in den letzten Jahren als eine sehr angenehme, befreiende und auch machtvolle Position für mich herauskristallisiert. Sich dem Diskurs nicht zu unterwerfen und zu sagen, ich weigere mich, mich festzulegen.

Sie beschäftigen sich mit verschiedenen Themen, etwa Feminismus, Klassismus. Was ist Ihnen dabei wichtig und was finden Sie besonders spannend?
Die meisten meiner Tätigkeiten sind geprägt von einem Bedürfnis, irgendwo dazu zugehören. In meinem Gedicht «Pomelo» heißt es: «nie wieder liebeskummer / nach irgendwo dazugehören». Das ist ja etwas Verlockendes, Zugehörigkeit. Zu einem Arbeitsumfeld, einer politischen Gruppe, einem Freundeskreis, einem Fanclub eines Fußballteams zu gehören. Zu wissen, wo der ­eigene Platz ist. Es ist etwas Angenehmes und Warmes. Gleichzeitig erkenne ich, wie gefährlich das sein kann. Durch die einfache Anerkennung ­lassen sich viele Menschen auch in gefährliche ­rassistische, antisemitische, frauenfeindliche Narrative hineinumarmen. Ich würde sagen, dass all diese Felder, in denen ich tätig bin – feministische und antirassistische Kritik, postkoloniale Analyse, antikapi­talistische Pers­pektiven – Felder sind, die sich mit dieser ­Frage beschäftigen. Wie funktioniert Zugehörigkeit, welche Vor- und Nachteile hat sie? Und dort ist auch mein ­literarisches Werk angesiedelt. Im Nachhinein erkenne ich das Muster und sehe, dass ich mich ständig mit der Falltür der Identität ­beschäftige, mich ständig frage, wie wir gleichzeitig alle unterschiedlich sein können und dabei Gemeinsamkeiten finden, ohne dass sich das Ganze wie ein Bumerang gegen uns und gegen die Gesellschaft dreht.
Nicht zuletzt ist ein gemeinsamer Nenner aller meiner Aktivitäten die einfache Frage nach Gerechtigkeit, und nicht nur im Sinne von Recht. Nicht: Was sagt das Gesetz? Was sagt der Staat? Sondern: Was ist Gerechtigkeit und wie kann man eine gerechte Gesellschaft vielleicht träumen? Zumindest träumen. Das ist eine Pflicht, sie zu träumen. Ob man sie dann erreicht? Hoffentlich!

Olja Alvir: Spielfeld.
Gedichte Pjesme Poems
Der Kollektiv Verlag 2022
104 Seiten, 13 Euro

Olja Alvir
wurde im Jahr des Berliner Mauerfalls in Jugoslawien geboren und kam mit ihren Eltern auf der Flucht vor dem Krieg nach Österreich. Sie studierte Deutsche Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft, schreibt literarisch (Roman Kein Meer, 2016), wissenschaftlich und journalistisch (für an.schläge, missy magazine, Der Standard, Tagebuch, Augustin u. v. m.). Sie ist Universitätsassistentin am Institut für Slawistik der Uni Wien, moderiert, hält Vorträge, übersetzt. In Abwandlung eines Zitats der Multimediakünstlerin Anna Kohlweis («Meine Kunst ist ein asymmetrisch aufgespannter Regenschirm.») meint sie: «Alle meine Tätigkeiten sind asymmetrisch aufgespannt.» Derzeit arbeitet sie u. a. an einem zweisprachigen Lyrikband und an der Übersetzung eines Theaterstücks der renommierten kroatischen ­Autorin Tena Štivičić.