Aufgegeben und vergessenvorstadt

Die ehemalige S-Bahnstation Strandbäder befindet sich in einem Transitionsprozess [Foto: (c) C. Fellmer]

Während das öffentliche Verkehrsnetz wächst, gibt es auch Bahnhöfe und Stationen, die fast unbemerkt aus dem Stadtbild verschwinden – obwohl sie durchaus historische Wurzeln haben. Auf der Suche nach «Lost Stations».

Die Geschichte beginnt vor ungefähr 45 Jahren. Wer sich damals aufs Studium vorbereitete oder sich um einen krisensicheren Job beim Nahversorger «Konsum» bewarb, steht heute mit einem Fuß in der Pension. Das damalige Wien sieht man noch in alten Kottan-Filmen: die Station «Wien Mitte» zum Beispiel, mit offenen Bahnsteigen, ohne umgebende Hochhauskulisse, ohne Kino und Einkaufszentrum. Regisseur Peter Patzak sitzt mit dem Filmsandler Drballa auf einer Bank vor Gleis 3 und wird erschossen. Ein dunkler, abgenützter Bahnhof war es, mit im Winter verschneiten Steigen, fast ein Denkmal des grauen Wiens der Nachkriegszeit. Aber eine schleichende Veränderung begann: der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes, angefangen mit dem Neubau der U1 und dem Umbau der altgedienten Stadtbahn in die Linien U4 und U6. Die Schnellbahn, bis in die 1980er-Jahre hinein eine der Hauptverbindungen zwischen diesseits und jenseits der Donau, bekam Konkurrenz. Viele der heute noch genützten Stationen wurden zu «Mobilitätsdenkmälern»; nicht zuletzt, weil ihr Architekt Otto Wagner hieß. Andere «Zeitzeugen», die das Bild einer Stadt zeichneten, die sich anders bewegte als es sogenannte moderne Mobilitätskonzepte regeln wollen, sind zu «verlorenen Plätzen» geworden und still und heimlich aus dem Stadtbild verschwunden. Die meisten wurden durch U-Bahn-Knoten ersetzt und schnell vergessen. Wer erinnert sich noch daran, wie man vor der S45 schnell von Hütteldorf nach Döbling gelangte oder vor der U2 zur Hauptuniversität? Gab es überhaupt eine Zeit davor?

2er-Linie

Bis zum aktuellen Umbau des U-Bahnnetzes, der gerade mit mehrjährigen Großbaustellen die Herzen der Anrainer:innen erobert, gab es in der U2 eine Geisterstation: die Haltestelle Lerchenfelder Straße, zwischen den Stationen Rathaus und Volkstheater. Ihre Geschichte beginnt im Jahr 1966 als Haltestelle der sogenannten Unterpflasterstraßenbahn, die von den Linien E2, G2 und H2 angefahren wurde, weshalb die Strecke bis heute 2er-Linie genannt wird. Zwischen den heutigen Stationen Museumsquartier und Rathaus erfolgte der Verkehr unterirdisch. Es war noch keine richtige U-Bahn, eher eine tiefer gelegte Straßenbahn, aber ein Erstversuch. Tatsächlich wurde 1980 die U2 daraus, deren Bahnsteige dann um die Jahrtausendwende für längere Züge adaptiert werden sollten. Dem fiel die Lerchenfelder Straße zum Opfer: Die Abstände zwischen den Stationen waren zu gering, sodass die Züge ab dem Jahr 2003 an dunklen, versiegelten Bahnsteigen vorüberfuhren, ähnlich wie man es im Kino sieht, wenn man nichts sehen soll. Knapp 40 Jahre nach ihrer ersten Fahrt ist die U2 nun wieder eine Großbaustelle, und mit ihrem Ende wird die Erinnerung an die 2er-Linie ein bisschen mehr verschüttet sein. Dem Vernehmen nach existieren auch Reste der ehemaligen Stadtbahnstation Westbahnhof wie eine Zeitkapsel unter der Gürtelfahrbahn. Sollten sie in 100 Jahren noch da sein und zufällig gefunden werden, wären sie vielleicht ein Museum des Vintage-Zeitalters der Fortbewegung.

Donauinsel-Knoten

Insgesamt neun Schnellbahnstationen wurden seit dem Jahr 2000 im Wiener Raum aufgelassen, fast alle, weil sie durch andere Verkehrsanbindungen ersetzt wurden. Von drei Stationen gibt es noch mehr oder weniger deutlich erkennbare Überreste, eine davon ist die Haltestelle Strandbäder neben der Donauuferautobahn in Floridsdorf. Sie wurde im Jahr 2000 durch die U6-Station Neue Donau verdrängt. Die Bahnsteige und Aufbauten sind zwar mit Gittern versperrt, aber noch erhalten: Eine Stahl- und Betonkonstruktion, die langsam von Pflanzen überwuchert wird und sich mehr und mehr dem ländlichen Idyll anpasst. Im Vorüberfahren erkennt man einen Platz, der einmal etwas war: Die Station wurde 1964 anlässlich der Wiener Internationalen Gartenschau eröffnet und war nach dem 1988 abgeschlossenen Ausbau der Donauinsel eine schnelle Verbindung dorthin. Davor war die Donauinsel eine Gstättn, wildes Land, schwer erreichbar. Auch 1984, beim ersten Donauinselfest, war man für die Verbindung dankbar. Knapp 40 Jahre später führen 15 Brücken und Stege auf die Insel.
Ebenfalls an der Neuen Donau, ein Stück stromabwärts, wird eine weitere Lost Station von der Natur überwuchert: die ehemalige S-Bahnhaltestelle Lobau (Näheres dazu hier). Es ist eine mühsame Spurensuche: Nur ein paar Zugangswege deuten auf die Station hin; etwas, das einmal ein Bahnsteig war, Zäune und Hecken. Die Gegend ist ab Ende April vor allem eines: grün. Sehr viel Natur, schmale Wege, Ruhe, alles ist kleinteilig, auch das eher dörfliche Siedlungsgebiet. Viele Radfahrer:innen, aber auch Garagen und Autos – und ansonsten kaum Infrastruktur.

Spurlos verschwunden

Im Süden des Zentralfriedhofes, ungefähr dort, wo Wien zu Ende ist und Niederösterreich beginnt, befand sich bis zum Jahr 2001 die S-Bahn-Haltestelle Zentralfriedhof-Kledering. Im Zuge einer Streckenverlegung wurde sie ersatzlos aufgelassen – knapp neben dem Tor 9 ist in den Büschen allerdings noch ein verlassener Gleiskörper zu finden. Folgt man ihm durch den Dschungel in östliche Richtung, findet man sich früher oder später in Kaiserebersdorf wieder. Reste der ehemaligen Station gibt es keine: Die Gegend wird jetzt vom Verschiebebahnhof Kledering dominiert.
Fast völlig vom Erdboden verschwunden ist auch die Station Unter-Döbling, die einmal zur Vorortelinie (S45) gehörte. Als Wiens einzige Gebirgsbahn 1987 nach 55 Jahren Betriebspause renoviert und ins Schnellbahnnetz eingebunden wurde, blieb sie als einzige Station außer Betrieb. Der recht prunkvolle Otto-Wagner-Bau am Dreieck Nusswaldgasse, Barawitzkagasse und Döblinger Hauptstraße wurde zwar im Juni 1895 als erstes Gebäude der neuen Wiener Dampfstadtbahn fertiggestellt, in den 1950er-Jahren aber mangels Nutzen – die Strecke wurde 1932 eingestellt – wieder abgerissen. Heute sind in der Fahr-trasse neben dem Wertheimsteinpark noch ein paar denkmalgeschützte Mauerreste zu sehen, die man aber auch mit viel Fantasie kaum für eine Verlassenschaft dampfgetriebener Mobilität halten würde.

Hochglanz-Charme

Der größte Stationsverlust der neueren Zeit ist aber der Südbahnhof. Das Hauptgebäude lag ungefähr dort, wo heute der Erste Campus in der Sonne glänzt. Die Haltestelle heißt jetzt Quartier Belvedere, und der neue Hauptbahnhof befindet sich beim Südtiroler Platz. Die Konstruktion aus Beton, Stahl und Glas passt sich gut an die Optik des neuen Sonnwendviertels an. Sie hat den Charme von Hochglanz-Raumschiffen in schlechten Science-Fiction-Filmen: Keine Kratzer und Dellen im Lack, keine Risse im Verputz, alles wirkt so, als wäre es gerade erst ausgepackt worden. Der gefühlte Wien-Bezug ist klein; solche modernen Stadtteile passen überall hin, wo die vier architektonischen Reiter schon waren. Alles ist modular, kann andocken, wachsen, die dahinrasende Umgebung spiegeln. Wie wenig man solche Entwicklungen vorhersagen kann, beweist die Essay-Sammlung Die Welt in 100 Jahren (Georg Olms Verlag), die erstmals 1910 veröffentlicht wurde. Die Autoren sagten vieles voraus, nur eines nicht: die Entwicklung des Individualverkehrs. In ihrem Irrtum waren die Verkehrsmittel der Zukunft öffentliche Transportsysteme. Dann kam Henry Ford und der Rest ist eine Industriegeschichte ohne Happyend.