Augustin-Verkäuferin Petra will in die Mitte, doch …Heroes

"Es gibt nur mehr Reich und Arm"

Dominic wird am 23. Oktober vier Jahre alt. Um ihn dreht sich zunächst das Gespräch, als Petra die Augustin-Redaktion besucht. Um Dominic, den Unerreichbaren, der schon mehr alpenländisch als wienerisch spricht. Die 33-jährige Augustinverkäuferin sehnt sich nach ihrem fernen Sohn. Aber um ihn zurückzuholen, müsste ihr und ihrem Mann das Kunststück gelingen, einem veritablen Teufelskreis zu entkommen – ausgerechnet in einer Zeit, in der Teufelskreise dieser Art geschlossen wie schon lange nicht sind.Ihr schönster Tag war der 23. Oktober 2001, als sie Dominic gebar, sagt Petra. Fast ebenso schön war jener Jännertag desselben Jahres, „in dem unsere Blicke sich trafen“. Wolfgang ist gemeint, ihr Lebenspartner, der sie zum Augustin brachte. Sie beide seien damals „noch schön gewesen“, meint Petra, noch ungezeichnet vom Straßenleben. Dominic war ein Resultat der ersten Liebesnacht. „So schnell er da war, so schnell war er weg“, sagt Petra mit tränenvollen Augen.

20 Monate ist Dominic von Petra und ihrem Mann Wolfgang großgezogen worden. Das Jugendamt fand, das Paar sei überfordert mit dem Kleinkind. Als dieses mit einem Beinbruch ins Spital geliefert werden musste, schienen die Vorbehalte des Amtes bestätigt zu sein. Als der Kleine wieder daheim war, klopfte das Jugendamt an die Tür. Dominic sei „grün und blau geschlagen“ worden. Verleumdungen von Neidern im Gemeindebau, glaubt Petra: „Das nächste Mal behaupteten sie, dem Kind sei Wodka mit Red Bull eingeflößt worden.“ Heute wohnt Dominic in Bad Ischl „bei Pflegeleuten, ich sage das bewusst so, weil die Eltern, die das Kind zu pflegen bereit sind, sind wir.“

Den katastrophalsten Juni ihres Lebens wird Petra nie vergessen. Den Juni des Jahres 2003. Er begann mit der „amtlichen Entführung“ Dominics und endete mit dem Verlust der Gemeindewohnung.

Wolfgang war damals einige Monate in Haft. Mit dem Karenzgeld von rund 600 Euro waren Zins, Strom, Fernwärme und die Kindersachen von der Alleingelassenen nicht zu zahlen. Dass der Staat, wenn er seine delinquenten Bürger bestraft, die Angehörigen gleich mitbestraft, ist eine Schandtat, die ihm peinlich werden müsste, wenn es eine ausreichende kritische Öffentlichkeit gäbe, die etwas von menschlichen Grundrechten verstünde. Der Staat ist aber in dieser Hinsicht relativ unbeobachtet, und so kommt es in einem so genannten zivilisierten Land immer wieder vor, dass dem Angehörigen eines Gesetzesbrechers der Alltag als Zwangssingle schwer gemacht wird, als sei es selbstverständlich, dass die staatliche Rache „die ganze Sippe“ treffen müsse.

Der Augustin als Überlebensmittel

Jeden Dienstag besuchte Petra ihren Mann in Stein. Die Fahrtkosten konnte sie gerade noch aufbringen. Während der Haft des Mannes wuchs der Zinsrückstand an, und schließlich kam der Exekutor. Niemand konnte und wollte Petra helfen, die gefürchtete Delogierung wurde Wirklichkeit.

Heute träumt die Straßenzeitungsverkäuferin vom „ganz normalen Leben: arbeiten gehen, den Haushalt führen, Wäsche waschen, kochen …“ Gäbe es den Augustin nicht, hätten Petra und Wolfgang keinen Anlass, sich diese Normalität zumindest vor Augen zu führen. Wolfgang zählt zum Augustin-Urgestein, Petra ist seit 2001 Kolporteurin. Sie verkauft auf dem Schwedenplatz und in der Rotenturmstraße – draußen und in den Lokalen. Die beiden verhungern nicht, dank der Einnahmen aus der Kolportage. Im Moment sind beide sonst mittellos. Die nötigen Papiere, um die Sozialhilfe zu beantragen, sind derzeit nicht zur Verfügung.

Damit ihr Wunsch Nr. 1 in Erfüllung geht, den Sohn wieder zu haben, bräuchten sie eine eigene Wohnung und einen Job. Um eine Wohnung zu bekommen, ist ein Job nötig. Um einen Job zu bekommen, muss man eine Wohnung vorweisen können. Um zum Kind zu kommen, braucht man die Wohnung, die man ohne Job nicht kriegt; und einen Job, den man ohne Wohnung und aus weiteren Gründen nicht kriegt. Das klingt nach holzschnittartiger Vereinfachung, klingt zugespitzt und verkürzt. Die „weiteren Gründe“ sind die Vorstrafen des Mannes und die ramponierten Körper der beiden, eine Hypothek ihres Straßenlebens, die in einer Zeit, in der der Arbeitsmarkt selbst die körperlich Fittesten in das Ausgedinge der AMS-Zwangskurse verstößt, aus Petra und Wolfgang keine seriösen Kandidaten für wählerische Personalchefs macht! Redet da noch immer wer von holzgeschnitzter Darstellung eines Circulus vitiosus?

Hotel Abstellgleis – damals noch toleriert

Nach der Delogierung übernachteten Petra und ihr Mann in einem Eisenbahnwaggon am Bahnhof Praterstern. Die Kälte und der Stress, im Waggon nicht allzu oft „Tage der offenen Tür“ zu haben, also relativ unbehelligt von betrunkenen Quartiersuchenden zu bleiben, lassen keine sozialromantische Vorstellungsspur zu. Das „Hotel Abstellgleis“ war damals von der Bahnhofsverwaltung noch toleriert worden. Der futuristische Bahnhof Nord neu wird niederschwellige Notunterkünfte dieser Art ebenso wenig zulassen wie jene zwar grindigen, aber frequentierten Freiräume, in denen die Praterstern-Randexistenzen heute noch bzw. bis vor kurzem ihre täglichen Palaver veranstalteten.

Heute leben Petra und ihr Mann in einer Wohnung bei Freunden, sie können und wollen sich die Härte des Waggonlebens nicht mehr vorstellen. Jeden Monat dürfte Petra ihren Sohn sehen. Zwei Stunden lang. Aber das Geld für Hin- und Rückfahrt fehlt meist.

„Es gibt nur mehr Reich oder Arm, die Mittelschicht geht uns abhanden“, analysiert Petra die soziale Entwicklung. Eine Wohnung haben, eine Arbeit haben, den Kleinen haben, das Elternrecht haben – das zusammen wäre noch kein Zurück zur Mittelschicht, soziologisch gedacht. Petra und Wolfgang würden wohl noch immer an der Armutsgrenze leben. Wie missraten muss ein soziales System sein, in dem der Wunsch, sich in die Nähe der Armutsgrenze hinauf arbeiten zu können, wie eine Illusion erscheint? Was ist das für ein System, in dem für Arme ohne Jobaussicht das Erreichen des Status des Working Poor schon wie ein Angekommensein in der Mittelschicht erscheint?

Manche historischen oder noch grassierenden Utopien sollten vielleicht besser nicht realisiert werden. Daneben gibt es Visionen, deren Verwirklichung uns eine Herzensangelegenheit ist. Petras schlichte Utopie zählt dazu: „Ich möchte den Kleinen wieder riechen können. Ich möchte ihm die Zehennägel und die Fingernägel schneiden, er hat so lieb geraunzt dabei.“

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