Aus dem Märchenland namens FiumeArtistin

«Palatschinken» – eine Fluchtgeschichte, gezeichnet und fotografiert

«Die Flüchtlinge von heute sind nicht wesentlich anders als die Flüchtlinge von früher», sagt die in Paris lebende Italienerin Caterina Sansone. Zusammen mit ihrem Freund und Comiczeichner Alessandro Tota hat die 1981 geborene Fotografin ihr Buch, halb Comic, halb Fotoband, herausgebracht, das nun auch auf Deutsch erschienen ist: «Palatschinken – Eine Geschichte des Exils». Es ist die Fluchtgeschichte ihrer Mutter. Von Martin Reiterer.Am Anfang war diese Blechbüchse voller Fotos. Das war einer der wenigen Schätze, die Caterina Sansones Mutter Elena und ihre Eltern 1950 aus Fiume, heute Rijeka, mitgebracht hatten. 1947 wurde Fiume, zuvor seit 1924 Teil des faschistischen Italien, der Volksrepublik Jugoslawien zugesprochen. Wurden nach dem Ersten Weltkrieg die Kroaten und Slowenen aus Fiume vertrieben oder Opfer einer harten antislawischen Politik und faschistischen Italianisierung, so wendete sich nun das Blatt. Jetzt wurden die Italiener_innen vertrieben, verfolgt oder zu Assimilation gezwungen. Obwohl Elenas Eltern keinen Gewaltakten ausgesetzt waren, entschieden sie sich, aus wirtschaftlichen Gründen, Fiume zusammen mit ihren zwei Töchtern und Elenas Mutter zu verlassen und nach Italien ins Exil zu gehen, wo sie über ein Jahrzehnt in Flüchtlingslagern verbrachten.

Als Caterina Anfang der 2000er Jahre zu einer Ausstellung zum Thema Migration einen Beitrag leisten sollte, besann sie sich ihrer Wurzeln: «Ich dachte mir, ich habe bereits eine Geschichte in meiner Familie, also muss ich nicht woanders danach suchen», erinnert sie sich im Interview. Erst Jahre später kam ihr die ebenso eingängige wie überzeugende Idee, die Fluchtorte ihrer Mutter aufzusuchen, fotografisch festzuhalten und die Aufnahmen von heute den alten Fotos aus ihrer Keksdose gegenüberzustellen.

Das Wort «palačinke» hat Sansones Mutter Elena, Tochter eines Italieners und einer Kroatin aus Kroatien mitgebracht, als kulturelles Gepäck eines Volkes im Exil, wie es die Fotografin im Vorwort bezeichnet. So wie Fiume für Sansone «eine Art Märchenland: die Kindheitsstadt meiner Mutter» darstellte, so weckte «palačinke» in ihr Kindheitserinnerungen, denen sie auf den Grund gehen wollte. Das Interesse, die Fluchtgeschichte der Mutter aufzuschreiben, ging mit dem Wunsch, mehr über die eigene Herkunft zu erfahren, Hand in Hand. Einen weiteren Aspekt nennt Tota im Gespräch: «Da es sich nicht unmittelbar um meine Familie handelte, war für mich stets folgende Frage im Vordergrund: Wer sind wir Europäer? Unsere Geschichte sagt uns, wir waren nicht immer die reichen Europäer, es gab nicht immer Frieden. Nein, die Geschichte ist komplizierter.»

(zwiti) Die Frauen trugen nie schwarz

Ausgerüstet mit einigen Dokumenten aus privatem Besitz und anderen aus öffentlichen Archiven sowie einem ausführlichen Interview mit Elena zeichnen die beiden die Stationen der Flucht in umgekehrter Reihenfolge nach, und so beginnt die Reise in die Vergangenheit in Antella bei Florenz, dem letzten Wohnort von Sansones Mutter. Von dort geht’s weiter nach Neapel, wo Elena zwölf Jahre ihrer Kindheit im Flüchtlingslager Capodimonte, dem heute größten Park der Stadt, verbracht hatte, bis sie 1963 erstmals mit ihrer Mutter in eine Wohnung ziehen konnte. Ihr Vater und ihre Großmutter sind ein Jahr zuvor im Lager gestorben, ihre Schwester hatte inzwischen geheiratet. Was der Comic hervorhebt, ist der Umstand, wie sehr die Flüchtlinge auf ihre Würde bedacht waren. Traditionen und Feste spielten, trotz der ärmlichen Verhältnisse, eine wichtige Rolle. Die Frauen trugen nie schwarz: «Wir leben schon in einer so schwierigen Zeit! Warum sollten wir dann auch noch Trauerkleidung tragen?»

Ein Jahr lang wurde Elenas Familie von einem Verteilerzentrum und Flüchtlingslager zum nächsten geschickt, und so führt der Weg zurück über Bagnoli, Palermo, Udine, Triest schließlich nach Fiume. Im Anschluss an die einzelnen Orte folgt jeweils eine Serie von Fotos, den alten Fotografien aus der Blechdose folgen abwechselnd neue, möglichst aus der gleichen Perspektive. Der Kontrast ist allein schon durch den Wechsel von Schwarz-Weiß auf Farbe markant. Doch außerdem sind auf den neuen Fotos keine Menschen zu sehen. Auf einem Foto posieren Elenas Eltern einst vor ihrer Baracke im «Wald» des Capodimonte-Parks. Das Foto, das Sansone aus dem gleichen Blickwinkel aus gemacht hat, zeigt nur noch ein paar Bäume und Sträucher. Spuren? Keine. Bereits in den 1960er Jahren hat es Bestrebungen gegeben, das Lager aufzulösen. Durch Verzögerungen in der Wohnungszuteilung bzw. die Besetzung der Baracken durch bedürftige Familien aus Neapel kommt es erst Anfang der 1990er Jahre dazu. «Endlich siegt das Grün im Park von Capodimonte», hat eine lokale Zeitung dazu getitelt. Die Vergangenheit frisst und verwischt ihre Spuren. Die Fotois zeigen das Nichtvorhandensein der Spuren. In dieser impliziten Reflexion von Erinnerung zeigt sich eine der Stärken des Buchs. Erinnerung bedarf der Anstrengung der Rekonstruktion.

Dem Zeichner Tota ist es gelungen, dafür einen angemessenen Strich zu finden. Nach mehreren Anläufen, wie er schildert: Waren frühere Versionen expressionistischer oder karikaturesker, so treten seine Zeichnungen nun „aufgeräumt“ in den Hintergrund. Die schlichte Linie, die weißen Flächen überwiegen und korrespondieren damit mit dem Befund der Fotoarbeit. Weiter möchten die Autoren aber auch im Gespräch nicht gehen: «Wir sind keine Historiker.» Die Lockerheit, mit der die Geschichte geschrieben ist und die etwa mit Elenas Palatschinkenrezept am Ende unterstrichen wird, ist ihnen wichtig.

Die Fluchtgeschichten ähneln sich – damals und heute

Das Thema der Flüchtlinge aus Fiume/Rijeka ist heute noch immer umstritten in Italien und wird gern politisch vereinnahmt. Nicht ganz unvergleichbar etwa mit der Diskussion um die Sudetendeutschen im deutschsprachigen Raum. Die Flüchtlinge aus Fiume/Rijeka wurden als Faschisten, bestenfalls als Fremde angesehen. Das hat mit der Vorgeschichte unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zu tun, als der Philosoph und Möchte-Gern-Staatsmann Gabriele D’Annunzio mit einer Truppe von Freischärlern die Stadt besetzte und in seinem Sinne «befreite». Dieses groteske Schauspiel, das von Ende 1919 bis Ende 1920 andauerte, bevor die Stadt für weitere vier Jahre zu einem ominösen Freistaat wurde, hat der französische Comiczeichner David B. in einer Comicerzählung «Auf dunklen Wegen» (2010) inszeniert. Das anarchisch-faschistische Experiment des Comandante D’Annunzio, das die Stadt in ein unheilvolles Chaos und Treiben versetzt, gebiert neben fantastisch-utopischen vor allem eine Reihe faschistischer Schöpfungen, die sich der italienische Faschismus zu eigen machen wird.

«Palatschinken» hingegen beschränkt sich auf eine persönliche Geschichte der Flucht. Doch sie hat Symbolkraft. Es bedarf nur weniger Anstrengungen, um zu sehen, dass bereits unsere Eltern und Großeltern von Fluchtgeschichten betroffen waren. Und wenn heute Flüchtlinge mit ihren Handys und Smartphones Fotos und Videos von ihrer Familie und ihren Freunden als ihrem Herzstück mit sich herumtragen, so erinnert das an Elenas Blechdose, in der sie ihre Fotos aufbewahrt hatte, neben einigen Dokumenten und Kleidungsstücken das einzige, was sie aus ihrer Heimat mitnehmen konnte.

Info:

Caterina Sansone / Alessandro Tota: Palatschinken. Die Geschichte eines Exils. Aus dem Italienischen von Volker Zimmermann. Handlettering von Sascha Hommer. Berlin: Reprodukt, 2015

David B.: Auf dunklen Wegen – die Prologe und die Geister. Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Berlin: avant-verlag, 2010

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