Aus erster Handvorstadt

Die berühmte Buchdruckmaschine Heidelberger Tiegel (Foto: © Wenzel Müller)

Zu «unsichtbarem Handwerk», wie Vergolden, Tapezieren oder Messerschleifen, organisiert die Projektgruppe Eintagsmuseum regelmäßig Spaziergänge. An einem hat der Augustin teilgenommen.

 

In einem Fach liegen leere Bierdeckel. Per Luftansaugung ­werden sie, einer nach dem anderen, vom Stapel gelöst und mit einem ­Greifer zum Andruck geführt. Dann ist es wieder ein Greifer, der den bedruckten Bierdeckel in einem anderen Fach ablegt. Ein einfacher mechanischer Vorgang. Der Keilriemen schwingt, die ­Maschine ­rattert. Man könnte fast ­meinen, es hier mit einem Dino­saurier der Technik­geschichte zu tun zu haben, ­dabei ist ­diese Buchdruckmaschine gerade ­einmal 60 Jahre alt.
Heute werden die Geräte immer kleiner und zugleich leistungsfähiger, sogenanntes Downsizing ist angesagt. Vor einem halben Jahrhundert war das noch anders, da wurden sie für die Ewigkeit erschaffen, zumindest vermitteln sie diesen Eindruck mit ihrer wuchtigen Erscheinung.
Die Buchdruckmaschine, eine Original Heidelberger Tiegel, würde sich in ­einem Museum gut machen. Steht aber in den ­Arbeitsräumen von ­Schöndruck ­Letterpress, einem kleinen Wiener Druckunternehmen, und dort nicht etwa als Deko­rationsstück, sondern als ­Arbeitsgerät. Vor Jahren haben Conny und ­Martin ­Brandhofer, sowohl privat als auch ­geschäftlich vereint, diese Maschine über Ebay erstanden, in München – «der Transport nach Wien war teurer als die Anschaffung» –, und heute verdienen sie ihr Geld mit ihr. Sie drucken vor allem Bierdeckel, Hochzeitseinladungen, Visiten­karten. Keine Massenware, sondern Einzelanfertigungen. Im Übrigen auch keine Bücher.

Altes Handwerk

Hier wird buchstäblich noch Hand angelegt, für jede Druckform eine eigene Farbe erstellt. Genau aus diesem Grund lud das ­Eintagsmuseum im März zu einem Besuch von ­Schöndruck Letterpress ein. Bei dem Eintagsmu­seum handelt es sich um eine Projektgruppe, die sich der Erkundung von «unsichtbarem Handwerk» in Wien verschrieben hat. Einmal im Monat macht sie einen Spaziergang zu einem ausgewählten Handwerksbetrieb, kostenlos für alle Interessierten.
Soziolog:innen sprechen gerne davon, dass wir uns immer mehr von einer Arbeits- zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickeln. Das mag stimmen. Doch es gibt sie noch, die Tapezierer:innen, Goldschmied:innen, Messerschleifer:innen, die ihr Handwerk hochhalten. Meist sind es kleine Betriebe, mit Sitz in einem Hinterhof. Sie führen ein eher randständiges Dasein und bedienen eine ­Nische. Das große Geld machen sie nicht ­unbedingt mit ­ihrer Arbeit, doch sie können von ihr in der ­Regel leben. Und vor allem: Sie lieben ihre ­Arbeit. Das ist jedenfalls die Erfahrung von ­Johanna Reiner, eine der zentralen ­Initiatorinnen des Eintagsmuseums.
Johanna Reiner ist Künstlerin, an der Akademie für bildende Kunst hatte sie in Wien Bildhauerei studiert. 2015 bezog sie ein ­Atelier in Wien Ottakring. Und damit, erzählt sie am Telefon, begann ihre intensivere Beschäftigung mit dem alten Handwerk. In ­ihrem Atelier war nämlich vorher eine Gießerei untergebracht, woran einige ­zurückgelassene Werkzeuge ­erinnerten, wie eine Lötlampe oder eine Spritzpistole. In den Augen der Bildhauerin ­Geräte mit wunderschöner Form. Johanna Reiner wollte mehr wissen: Wie sah die Arbeit in dieser Werkstatt früher aus? Welche Betriebe gab es in den Nachbarhäusern? Kam es zu Kooperationen, und wenn ja, zu welchen?

Stadtforschung

Reiner machte sich buchstäblich auf den Weg. Klingelte hier, erkundigte sich dort, holte von allen möglichen Seiten Informationen ein. Was sie unternahm, kann man Stadtforschung nennen. Sie selbst spricht lieber von künstlerischer Arbeit, mit dem Schwerpunkt auf Kollaboration, Partizipation und Community-Building. Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen präsentierte sie in Ausstellungen und Publikationen.
Irgendwann führte sie auch die ­Spaziergänge zu Handwerksbetrieben ein. Heute macht die vor allem Reiners Tochter Uma mit Alix ­Drakulic, beide Kunststudentinnen und Mitarbeiterinnen des Eintagsmuseums. Jeden zweiten Mittwoch im Monat trifft man sich dazu an der Ecke Eisvogelgasse/Mollard­gasse. Das ­mutet fast ein bisschen konspirativ an, hat aber nur praktische Gründe. Von hier ist es ­jeweils nicht weit zu der ausgewählten ­Adresse, nach dem 9., 8. und 7. Bezirk legen die Forscherinnen nun ihr Augenmerk vermehrt auf den ­6. ­Bezirk. Zu ihren Handwerksbetrieben, ­erzählen sie, kommen sie, indem sie einfach mit ­wachen Augen durch die Straßen ­dieses Bezirks ­gehen, ohne Scheu auch ­davor, die Hinterhöfe zu ­inspizieren. Glauben sie, fündig ­geworden zu sein, heißt es für sie, an der entsprechenden Tür zu klingeln und nachzufragen. Wenn sie Glück haben, können sie dann auch gleich ­einen ­Besuchstermin ausmachen.
Die Werkstatt von Schöndruck ­Letterpress führt keineswegs ein verstecktes ­Dasein, sie befindet sich im sogenannten Werkstättenhof (zwischen Mollardgasse und Linker ­Wienzeile), den schon Kaiser Franz Joseph Anfang des vorigen Jahrhunderts errichten ließ. Die Tradition wird in dem denkmalgeschützten Industriebau hochgehalten. Wie ­damals arbeiten hier rund 50 Betriebe Tür an Tür, Tischler:innen und Mechatroniker:innen, Drucker:innen und Maler:innen.
Wer einen Computer mit Drucker hat, kann heute problemlos Einladungskarten selbst herstellen. Etwas Besonderes oder Einmaliges kommt dabei aber kaum heraus. Genau das ist mit der alten Buchdruckmaschine zu schaffen: Sie kann prägen, stanzen, rillen – und so aus ­einer Einladungskarte ein haptisches ­Ereignis machen.

Kosten?

Wie teuer kommt so ein Druckauftrag? Das wollen die Teilnehmer:innen dieses Stadtspaziergangs wissen. Für Martin Brandhofer kommt die Frage nicht unerwartet. Er sagt: «Meine Standardantwort darauf ist: Unter ­einer Million.» Das ist nicht unwitzig. Konkreter wurde eine ­Schneidermeisterin, die ­einen Monat zuvor bei einem Stadtspaziergang ­besucht wurde. Eine Hose koste bei ihr 200 Euro, sagte sie, eine Jacke 400 Euro. Kein Zweifel: Das Handwerk hat seinen Preis.
Auch bei Conny und Martin Brandhofer ist dies wieder zu spüren: Sie lieben ihre ­Arbeit. Diese tiefe Zufriedenheit mag zum einen von der manuellen Tätigkeit herrühren, zum ­anderen von dem Umstand, dass sie niemanden über sich haben. Sie sind Arbeiter:innen und Chef:innen in Personalunion. Sie bestimmen selbst, was sie tun. Dazu kommt der intensive Austausch mit den Kund:innen, bei dem es jeweils darum geht, deren individuellen Wünschen nachzukommen. Sie sind Herr ­respektive Frau über den ganzen Prozess, von der Herstellung bis zum Verkauf. Karl Marx ­würde wohl von unentfremdeter Arbeit sprechen.

Einzelkämpfer:innen

Johanna Reiner erzählt von einem Vergolder, der immer ­wieder Einladungen zu Ausschreibungen erhalte, ­daran aber jeweils mit gemischten Gefühlen teil­nähme. Einerseits sei er auf neue Aufträge ange­wiesen, andererseits fürchte er nichts mehr, als womöglich Mitarbeiter:innen einstellen zu müssen. Er wolle der kleine Betrieb bleiben, der er ist.
Diese Leute, die sich dem seltenen Handwerk verschrieben haben, sind zumeist Einzelkämpfer:innen. Die Mitarbeiterinnen des Eintagsmuseums sehen den Sinn ihrer ­Arbeit nicht zuletzt darin, die einzelnen Handwerksbetriebe in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und deren Vernetzung zu befördern. Wer auf die Homepage von «unsichtbares Handwerk» klickt, sieht, dass sie gerade an einer Wien-Karte arbeiten, auf der die Standorte dieser Betriebe verzeichnet sind.

Anmeldung zu den Spaziergängen unter:
www.unsichtbareshandwerk.com

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