Vom Krieg in der Ukraine in ein neues Künstlerleben geradelt
Ein Künstler schnappt sich ein Fahrrad und fährt nach Wien. Klingt unspektakulär? Ja, wenn der Startpunkt nicht die Westukraine wäre. Von dort hat Alexander Chuka sich aufgemacht, weil er dem Krieg nichts abgewinnen kann. Alexander Fortunat hat ihn porträtiert.
Foto: Oleksandr Chuka
Der 23-jährige Alexander (ukrainisch: Oleksandr) Chuka kommt aus der westukrainischen Kleinstadt Wynohradiw mit ungefähr 25.000 Einwohner_innen. Sie liegt im Oblast Transkarpatien; ein Oblast entspricht einem Bezirk oder einer administrativen Einheit. Circa 15 Prozent der Bevölkerung von Wynohradiw gehören der ungarischen Volksgruppe an. Alexander hat eine ungarisch-ukrainische Doppelstaatsbürgerschaft, weil sein Vater aus Ungarn stammt und seine Mutter aus der Ukraine.
Während seines Studiums auf der Nationalen Akademie der Bildenden Künste und Architektur in Kiew war Holz das bevorzugte Material für den Künstler. An der Uni lernt er auch die gleichaltrige Kate kennen und lieben. Gemeinsam schaffen sie viele Kunstwerke, darunter sogar Tiffany-Glaskunst, die heute in ukrainischen Kirchen zu sehen ist. Aber Alexander arbeitet auch mit anderem Material: Ölgemälde auf Leinwand, Radierungen, Freskenmalerei in Kirchen, oder er erschafft mit seinen bloßen Händen vergängliche Kunstwerke aus Schnee.
Weg aus der Tristesse. Mit Ausbruch des Krieges in der Ostukraine im Februar 2014 hat sich die Situation für die Menschen in der Ukraine dramatisch verschlechtert. Der Wehrdienst ist zwar im Jahr 2013 abgeschafft worden, aber im Mai 2015 ist mit sofortiger Wirkung die Wehrpflicht wieder in Kraft getreten. Auch wenn Alexander ein Befürworter des Militärs ist – selbst zu den Waffen greifen, um Menschen zu töten, möchte er niemals. «Es sterben unschuldige Leute im Krieg. Auch meine Freunde sind in diesem Krieg gestorben. Ich habe ein bisschen Angst – ich wollte nicht zum Militär gehen», erzählt er heute. «Ich habe auch in Russland gearbeitet, und ich weiß, dass die Leute normal sind, aber die Politik ist so schwierig. Die Russen lieben uns wie Brüder, aber die Politik erzeugt solche Missverständnisse.»
Obwohl er von der strengen militärischen Ausbildung eigentlich fasziniert war, wusste er, dass er nun einen Plan brauchte, um nicht an die Kriegsfront geschickt zu werden. Schon als Kind wollte er in Wien leben, arbeiten und studieren. Die Kultur und die Schönheit Wiens, von der alle Welt spricht, hätten ihn immer schon fasziniert. Im März 2016 war es dann so weit: Sein Vater schenkte ihm ein Fahrrad, er packte das Notwendigste zusammen und machte sich auf die abenteuerliche Reise nach Wien.
Autobahn & Hotdogs. Schon nach etwa 40 Kilometern heißt es erst einmal: zurück zum Start. Alexander hatte seinen ukrainischen Reisepass zu Hause vergessen. Doch den benötigt er, um in Ungarn einreisen zu können. Nach der Grenzkontrolle war das Wetter erst einmal zwei Tage schön, doch danach hat es zu regnen begonnen. Fünf Tage am Stück, jeden Tag Regen. «Ich habe an die Türen von Häusern geklopft und gefragt, ob ich mich ein wenig wärmen und trocknen kann. Geschlafen habe ich unter Büschen, im Wald, aber nicht in der Stadt, da ist es ist ein bisschen gefährlich.»
Nach 230 Kilometern auf dem Rad erreicht er die ostungarische Stadt Debrecen. Weil von da an die Straßen aber schlechter geworden sind, beschließt Alexander den schnellsten Weg zu nehmen: direkt über die Autobahn. Und tatsächlich schafft er auch fast 100 Kilometer, bis ihn eine Polizeistreife zur nächsten Tankstelle eskortiert. «In der Tankstelle haben die Leute so gelacht, sie haben hier noch nie ein Fahrrad auf der Autobahn gesehen. Sie haben mir einen Hotdog und einen Hamburger bestellt – alles umsonst», erzählt er schmunzelnd. Von Budapest geht es nach Györ und von dort weiter nach Sopron. Fünfzehn Tage nach dem Aufbruch aus seiner Heimatstadt erreicht Alexander den österreichischen Grenzübergang bei Klingenbach. «Ich wurde an der Grenze nicht kontrolliert, bin einfach durchgefahren», erzählt Alexander.
Zelten in Wien. Nach 22 Tagen und 680 Kilometern auf dem Fahrrad findet Alexander sein erstes Domizil in einem Park in Wien-Liesing. Hier schlägt der junge ukrainische Künstler sprichwörtlich sein Zelt auf. «Ich habe keine Schweinerei gemacht, alles war sauber, und die Leute haben gar nichts gesagt. Ich habe immer im Zelt geschlafen und wollte mir so schnell wie möglich eine Arbeit suchen.» Er ist von seiner neuen Heimat begeistert: «Es gibt in Wien sehr viele Möglichkeiten. Hier kann man nicht Hunger leiden oder ohne einen Schlafplatz sein, in allen Bezirken gibt es Tageszentren.» Kleidung und Essen bekomme er vom Roten Kreuz und von der Caritas.
Sehr bald hat Alexander aber auch eine feste Unterkunft gefunden. Doch mit der Arbeit hat es nicht so schnell geklappt. Mittlerweile ist er beim AMS als arbeitssuchend gemeldet. Es ist ihm angeboten worden, an einem Programm teilzunehmen, das den treffenden Namen «Neues Leben» hat.
Im Sommer kommt Alexander zufällig mit «OPENmarx», einem Projekt des future.lab der Technischen Universität Wien, in Kontakt. Am Areal des ehemaligen Zentralviehmarktes im Wiener Stadterweiterungsgebiet Neu Marx im dritten Bezirk entsteht gerade ein Ort der Vernetzung, Bildung und Forschung. Alexander hat dort über den Sommer nicht nur aktiv als Künstler mit anderen Student_innen gemeinsam gearbeitet, sondern auch viele neue Freund_innen gefunden.
Favoritner Fluchtgeschichten. Zurück in die Ukraine will er vorerst einmal nicht. Wenn er mit seinen Eltern telefoniert, sagen auch sie ihm, dass er jetzt nicht zurückkommen soll, denn die Situation werde durch den Krieg immer schlechter. Der junge Künstler hat noch viele Pläne: Den Führerschein will er machen und so schnell wie möglich Arbeit als Tischler finden. Auch träumt er von einem Studium an der Universität für angewandte Kunst. Längst fühlt er sich sehr wohl in Wien, und so hat er auch eine kleine Beschäftigung gefunden, bei der er ein bisschen Geld verdienen kann: Als Guide für die Organisation «Supertramps» erzählt er den Teilnehmer_innen seiner Tour durch Favoriten die Geschichte von seiner Flucht.
Der größte Wehrmutstropfen für Alexander ist aber, dass er seine Freundin Kate in der Ukraine zurücklassen musste. «Ich möchte meine Freundin heiraten. Sie hat mir gesagt, dass sie jetzt einen Freund hat. Aber das macht nichts, ich will es versuchen. Kate ist mein Leben.» Irgendwann werden sie wieder zusammensein, da ist er sich sicher.