Ausgerechnet!tun & lassen

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Der Student Thomas Herndon öffnet auf seinem Laptop die Excel-Tabellen, die er als Aufgabe aus seinem Uni-Seminar bekommen hat. Die Studierenden einer kleinen Uni in Massachusetts sollen berühmte Studienergebnisse nachrechnen. Herndon hat sich den Ökonomen Kenneth Rogoff ausgesucht, der die These aufgestellt hat dass bei einem Staatsschuldenstand von mehr als 90% das Wachstum abnimmt.

Die Zahl war weltweit bekannt geworden – in der Schuldenkrise richteten die politischen Eliten auch ihre Sparpolitik in Europa daran aus. Das Leben von Millionen Menschen in den Krisenstaaten veränderte sich durch die daraus abgeleiteten Auflagen. Unternehmen gingen zugrunde, Menschen sanken in Armut ab, Millionen demonstrierten, Generalstreiks legten Länder lahm.

 

Die Zahl heißt 90 Prozent. Rogoff erhält dafür eine vom Stiftungsfonds Deutsche Bank finanzierte Auszeichnung. In der Jury sitzen Professoren, Journalisten, Finanzökonomen. Josef Ackermann, damals noch Vorstandschef der Bank, hält die Laudatio. „Es gibt viele dornige Themen in der Finanzwelt, und Rogoff hat viele kleine Wahrheiten herausgefunden“, sagt Ackermann vor mehreren Hundert Gästen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble sagt: Wissenschafter haben errechnet, ab 90% sinkt das Wirtschaftswachstum. George Osborne, britischer Finanzminister, ist sich gewiß: „Die neueste Forschung besagt: Sobald die Schulden ein Niveau von etwa 90% des Bruttoinlandsprodukts erreichen, erhöht sich das Risiko eines stark negativen Einflusses auf das langfristige Wachstum deutlich.“ Die Investmentgesellschaft Pimco, der größte Aktienhändler der Welt, entwickelt, basierend auf Rogoffs Analyse, den „Ring of Fire“, eine Grafik, bei der Länder, deren Schulden sich der 90-Prozent-Marke nähern, von einem Feuerring umschlossen werden. Zeitungen drucken das Diagramm, Internetseiten verbreiten es um die Welt. Zentralbankchef Mario Draghi erklärt mit den 90% den europäischen Sozialstaat für beendet.

 

Griechenland kürzt das Kindergeld. Spanien schließt Notaufnahmen für Kranke, Lehrer werden entlassen. Irland senkt den Mindestlohn und streicht öffentliche Dienste. Portugal senkt die Bildungsausgaben.

 

Der Student Thomas Herndon rechnet schon die ganze Nacht – aber er kann die Rechnung in der Excel-Tabelle aus Rogoffs Studie nicht nachvollziehen. Es geht sich nie auf 90 Prozent aus. Da entdeckt er, dass Rogoff nicht alle Zeilen in der Kalkulation angeklickt hat: es fehlen zahlreiche Länder mit ihren Daten und bei Neuseeland ist die Wirtschaft trotz Schulden gewachsen. Herndon korrigiert die Fehler. Die Zahl 90 verschwindet. Es gibt keine 90-Prozent-Schwelle mehr. Zwar ist in Ländern mit sehr hohen Staatsschulden das Wirtschaftswachstum tatsächlich etwas niedriger, aber der Unterschied ist zu gering, um eine eindeutige Aussage abzuleiten, außer dieser: Staatsschulden sind manchmal gefährlich und manchmal nicht. Bevor man ein Land zu massiven Sparmaßnahmen zwingt, sollte man lieber etwas genauer hinschauen.

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