Wiener Künstlerin bandelte mit Tony Matellis Schlafwandler an
Was ist heute surrealistische Kunst? Ist das nicht der Versuch, mit den Mitteln des Absurden die weithin unhinterfragten Reglements unseres Alltags zu untergraben und auf der Basis psychoanalytischen Wissens den Träumen eine neue Bedeutung zu geben? Die Wiener Psychotherapeutin Zsuzsi Vecsei, eine Späteinsteigerin in die Welt der bildenden Kunst, schildert im Folgenden, wie sie ihrem Kunstbegriff durch die Begegnung mit der Schlafwandler-Figur des Brooklyner Künstlers Tony Matelli das Moment der surrealistischen Irritation einverleibte.
Foto: Zsuzsi Vecsei
Bereits 2004 stellte die Kunsthalle Wien die hyperrealistischen Skulpturen Tony Matellis unter dem Titel «Abandon» in einer Einzelausstellung vor. Matelli, ein international bekannter und anerkannter Künstler aus Brooklyn, erregt Aufmerksamkeit durch hyperrealistische Darstellungen von Alltagserscheinungen in unerwarteten oder unangemessenen Situationen und Umgebungen. Er erreicht dadurch oft einen surrealen Effekt und kontroversielle Affekte beim Publikum. Seinen lebensechten Kunstwerken gelingt es sowohl Zustimmung als auch Irritation bis Ablehnung und heftige Aggressionen auszulösen. So wurde seine hyperrealistische Skulptur «stray dog», eine lebensgetreue Darstellung eines streunenden Blindenhundes, vom Standort entführt und zerstört am Stadtrand aufgefunden. Auch sein schlafwandelnder, superecht aussehender «Sleepwalker» hat zahlreiche Reaktionen erfahren.
Am 1. Tag meines Aufenthalts in New York verliebte ich mich in die «High Line» und in Tony Matellis Sleepwalker. Diese lebensecht wirkende Skulptur eines verwahrlosten, verwirrten nackten Mannes in Unterhose fasziniert täglich tausende, vor allem schlendernd-vorbeigehende Touristen. Für die New Yorker ist er inzwischen bereits ein alter Bekannter.
Er ist ein Eyecatcher, der verunsichert. Man will wissen, ob es sich um ein Lebewesen aus Fleisch und Blut handelt und ist erleichtert, dass man ihn ungestraft anschauen, vereinnahmen, fotografieren und begreifen kann. Diese Skulptur lässt niemanden kalt. So ist er, als Teil der Gruppen-Kunstausstellung «Wanderlust», zu einem neuen Wahrzeichen New Yorks geworden.
Heftigste Reaktionen, zum Gaudium des Künstlers
Ursprünglich stellte Tony Matelli seinen Sleepwalker 2014 im elitären Wellesley College auf. Dort löste das Kunstwerk unter den 2300 ausschließlich weiblichen Studentinnen heftige Reaktionen und kontroverse Diskussionen aus. In einer Petition mit 1042 Unterschriften wurde die sofortige Entfernung des Sleepwalkers gefordert, da er bei manchen Studentinnen Gedanken von sexuellen Übergriffen auslöse («triggering thoughts regarding sexual assault») sowie bei manchen Studentinnen unnötigen Stress verursachen würde («a source of undue stress»). Nachdem die Direktion sich weigerte, die Skulptur aus dem stark frequentierten Gelände zu entfernen, wurde diese vandalisiert, besprayt und musste sogar durch eine Absperrung geschützt werden. Der Künstler war von den heftigen Reaktionen begeistert. Betrachter_innen eines Kunstwerks sehen von sich aus «Dinge, die gar nicht da sind», aus sich heraus, unterschiedlich und individuell, subjektiv interpretierend. Der Sleepwalker löste eine lebendige Diskussion über Gender, Sexualität und Kunst im öffentlichem Raum aus.
Für mich wurde der Sleepwalker zu einem der Leitmotive meines dreimonatigen Studienaufenthaltes. Ich habe in New York viele Menschen erlebt, die wie der Sleepwalker durch die Straßen irren. Auch ich irrte herum, mein Englisch ist mangelhaft. Ich kannte niemanden, fühlte mich verloren in dieser lauten, heißen, hektischen Stadt, mit meinem Subwayplan in der Hand mich selbst als Tourist markierend. Leichtsinnig und spontan reiste ich mit dem nächsten Billigflug von Wien nach New York. Ein Quartier würde sich schon finden, ein billiges Zimmer in dieser Riesenstadt. Ich fand Unterschlupf in einem der zahlreichen billigen Hostels (um 75 Dollar plus Steuern!) mit täglich zehn international wechselnden Mädchen als Mitbewohnerinnen. Aus dem Rucksack lebend, meist zu zweit, waren diese unterwegs durch Amerika, von Stockbett zu Stockbett. Man reist mit Vorhängeschloss, um den Koffer oder Rucksack ans Stockbett befestigen zu können, falls man mehr als einen Tag bleibt, die Kopfhörer fest im Ohr, die Handys frisch geladen.
Mir fehlte jede Orientierung. Richtungsangabe? West oder East? Uptown oder Downtown? Wenn ich jemanden, der nicht touristisch aussah, nach dem Weg fragen wollte, musste ich ihn antupfen, worauf er erschrocken die Ohrenstöpsel aus den Ohren nahm, sich desorientiert und abwesend umblickte, unterwegs zwischen A und B, musste er sich erst zurechtfinden, um dann den von mir erfragten Straßennamen ins Handy zu hämmern. Meist war das gesuchte Ziel ja ganz in der Nähe. Die Angesprochenen mussten sich erst über Google orientieren, um mir Auskunft erteilen zu können. Sie tauchen auf wie aus einer anderen Realität, in der sie sich hinter den Kopfhörern befinden. Oder als hätte ich sie gerade geweckt und zu schnell gefragt.
Bewusst und willentlich schotten sie sich ab in dieser lauten Stadt voller Überreize. Sie wünschen in ihrer Freizeit keine Art von unkontrollierbarem Kontakt und suchen Ruhe und Entspannung, die sie am Smartphone zu finden glauben. Sie flüchten in ihre eigene Welt.
Immer wieder zog es mich zu den Liegen unter den Bäumen auf die High Line und zum Beobachten des Treibens der Touristen mit dem Sleepwalker. Ich träumte gern nur so vor mich hin, alleine, bis es dunkel wurde. Ich empfand mich als Partnerin des Sleepwalkers – und wollte dies fotografisch belegen. Spontan fragte ich einen mir sympathisch und offen erscheinenden Passanten, ob er mich fotografieren könnte. Ob er etwa 5 Minuten Zeit hätte. Dass ich eine Künstlerin aus Wien sei und mich in der Unterwäsche mit dem Sleepwalker fotografieren lassen wolle. Ob er dazu bereit wäre? Ob ihm bewusst sei, dass unter Umständen die Polizei oder Security einschreiten würde (in diesem prüden Land), es seien ja überall die Überwachungskameras sichtbar montiert? Ob er schnell so viele Fotos mit meinem Handy machen könne wie möglich, da würden dann schon einige brauchbare Bilder dabei sein. Er zeigte sich bereit, wir wussten beide nicht, welche Folgen das haben könnte. Ich zog mein Kleid aus und versteckte es in Sichtweite im Busch und stand da in der Unterwäsche. Ich hatte Sorge, dass ein Passant mit meinem Kleid abhauen könnte. Sofort sammelten sich die Touristen, um mich zu fotografieren und riefen mir in einigen Sprachen zu, mich ganz auszuziehen. So laut ich konnte, verkündete ich, dass dies kein Striptease und keine Peepshow sei, sondern «artistic work». Sie beruhigten sich, hielten Abstand und fotografierten interessiert die Aktion.
«Mein» Fotograf war ziemlich aufgeregt, und die Bilder wurden recht unscharf. Ich bat ihn, nicht nur mich, sondern vor allem die Szene, meine Interaktion zu erfassen und festzuhalten. Es stellte sich heraus, dass er Schauspieler war, unterwegs zu einem Auftritt. Er war so begeistert von meinem Vorschlag und der Aktion gewesen, dass er unbedingt mitmachen und sie unterstützen wollte. Er wünschte Glück und Erfolg und eilte zu seiner Vorstellung.
Am Laptop sah ich, dass die Qualität der Bilder unscharf und mangelhaft war. Meine schwarze Unterwäsche sah mir zu sehr wie ein Bikini aus. Ich wollte dem Sleepwalker eine Partnerin sein, gleich ihm, verwirrt in der Unterwäsche herumirrend.
Vom Metropolitan zum Guggenheim
Mit meiner Aktion war ich dennoch sehr zufrieden. Für mich als Künstlerin ist es wichtiger, die eigenen Ideen ernst zu nehmen und sie umzusetzen, als perfekt zu sein und in den Phantasien zu bleiben. Ich wollte die Situation ev. später mit einem professionellen Fotografen und in einer weißen, abgenudelten, oft gewaschenen Unterwäsche wiederholen.
Einige Kopien dieser Bilder begleiteten mich immer in meiner Handtasche durch die Stadt. Als ich die Ausstellung «dream states» im Metropolitan Museum besuchte, vermisste ich Tony Matellis Schlafwandler! Spontan entschloss ich mich, eine der Kopien der Sleepwalker-Aktion aus meiner Handtasche zu nehmen, mit Filzstift zu beschriften und sozusagen in Eigeninitiative «mitauszustellen».
«Zsuzsi Vecsei, Viennese artist, with Tony Matelli’s Sleepwalker on the High Line, NY, 2016», stand unter meinem Bild zu lesen. Einige Stunden blieb es ausgestellt, bis es die Security bemerkte und abhängte. Als ich anderntags wiederkam, hängte ich wieder eine Kopie auf. Die Besucher_innen betrachteten sie, fotografierten sie, ich fotografierte die Besucher, es passte. Weil das so problemlos möglich war, stellte ich im Tempel des Kunstmarktes, dem Guggenheim Museum, ebenfalls eine Kopie der Aktion aus. Auch da blieb die Arbeit einige Stunden hängen, bis zur Beschlagnahme durch die Security – Zeit genug, die Aktion fotografisch zu belegen und mich an den Reaktionen zu ergötzen, mich unters Volk zu mischen, über Kunst, den Kunstmarkt zu diskutieren.
So verhalf ich dem international bekannten Künstler Tony Matelli, seinem Sleepwalker und mir zu Ausstellungsbeteiligungen in den zwei renommiertesten Museen in New York. Ich denke, wüsste er’s, es würde ihm gefallen.