Authentisches Pragvorstadt

Unter der hier als Brücke geführten Durchzugsstraße Wilsonova befindet sich das Naděje, eine Anlaufstelle für Obdachlose Foto: Jan Pisar

Der Augustin-Verkäufer Jan Pisar machte in der tschechischen Hauptstadt eine Entdeckung unter einer zwar zentral gelegenen, aber dennoch schmucklosen Brücke: Naděje, eine Anlaufstelle für Obdachlose.

TEXT & FOTO: JAN PISAR

Seit fünfzehn Jahren bin ich nicht mehr durch Prag, wo ich auch eine Weile gelebt habe, gelaufen. Inzwischen hat sich viel verändert, aber die Prager Burg mit dem Veitsdom, die Karlsbrücke und die Altstadt sind immer noch an ihren Plätzen. Nur viele Läden haben ihre Betreiber:innen und Sortimente gewechselt. In unmittelbarer Nähe des historischen Zentrums wird viel gebaut. Auch die Prager U-Bahn soll zukünftig etwas angenehmer für Personen mit Mobilitätseinschränkungen werden. Darum sind einige U-Bahn-Stationen Baustellen. Aber Gott sei Dank bin ich in Prag nicht verlorengegangen.
Etwas abseits nördlich vom Hauptbahnhof befindet sich eine Art Stadt­auto­bahn­brücke. Und unter dieser Brücke ist auch etwas Neues – zumindest für mich, denn vor fünfzehn Jahren ist das noch nicht da gewesen. Es waren auch ­einige Leute in der Nähe. «Eine Einrichtung für die Obdachlosen», lautete die Antwort auf meine schaulustige Frage. Für Obdachlose – unter einer Brücke! Ja, Prag ist immer schon authentisch gewesen. Ich kam etwas näher. Plötzlich öffnete sich die Eingangstür. «Bist du da neu?», fragte mich ein Mann, offensichtlich der Pförtner. «Was können wir dir anbieten? Etwas zum Essen, zum Trinken? Du kannst auch Wäsche waschen, die Garderobe oder die Dusche benützen. Aber die Ärztin und die Sozialarbeiter sind heute nicht mehr da», setzte er fort. «Nichts davon, ich schaue nur, was für ein besonderes Gebäude sich gerade unter dieser Brücke befindet», antwortete ich gehorsam. Danach verabschiedeten wir uns freundlich voneinander.
Ich wollte noch einige Fotos machen und zog mein Handy heraus, aber das war keine gute Idee, denn einige herumstehende Leute reagierten sehr aufgeregt.

«Warum fotografierst du uns?»
«Ich fotografiere nur das Gebäude.»
«Raus hier!»

Eine weiterführende ­Kommunikation war dann nur noch per E-Mail möglich. Ich schickte Naděje, diesem Tageszentrum für Obdachlose, Fragen zu und ­erhielt Antworten vom Sozialarbeiter Luboš Turzík.

Wie kam es dazu, dass sich die Obdachloseneinrichtung unter der Brücke befindet?

Luboš Turzík: Der Standort der ­Anlaufstelle für Obdachlose Naděje (auf Deutsch «Hoffnung», Anm. d. Red.) ­direkt unter der Brücke ist nicht beabsichtigt. Im Jahr 2007 mussten wir ein ­Gebäude im Zentrum von Prag, wo wir 15 Jahre lang Obdachlosen geholfen hatten, aufgeben. Wir suchten nach einem Ersatz­objekt. Die Prager Behörden haben uns bei dieser Suche geholfen und ein Grundstück direkt unter der Brücke in der Nähe vom Hauptbahnhof vermietet. Aus Baustellencontainern haben wir auf dem Grundstück eine neue ­Anlaufstelle ­errichtet. Warum also unter der Brücke? Die Behörden haben uns kein anderes Grundstück oder Gebäude angeboten. Diese Lage im Zentrum – unter der Brücke – hat jedoch mehrere Vorteile. Unser Service ist für Obdachlose leicht erreichbar, sie müssen nicht an den äußersten Rand der Stadt fahren. Wir haben auch eine Notschlafstelle und ein Asylheim in der Nähe. So können wir Obdachlosen eine bezahlbare Unterkunft anbieten. Außerdem befindet sich der Standort unter der Brücke an einem unauffälligen Ort, ein normaler Prager wird uns nicht einmal bemerken.

Wie finden sich Ihre Klient:innen damit ab?

Unsere Klientinnen und Klienten schätzen die gute Erreichbarkeit der Anlauf­stelle und die Nähe zu weiteren Angeboten für wohnungslose Menschen. Der tatsächliche Standort des Tages­zentrums spielt bei unseren Klient:innen keine wichtige Rolle.

Wie wirken sich die aktuellen Veränderungen, etwa die Erhöhung der Energiepreise, auf Ihre Arbeit aus?

Im Jahr 2013 hatten wir die meisten Klient:innen, das war der Höhepunkt der Krise, die aus den USA gekommen ist, und die Bevölkerung wurde mit strikten Sparmaßnahmen hart getroffen. Seit 2013 ist die Zahl unserer Klient:innen regelmäßig zurückgegangen. Die Situation änderte sich im Jahr 2021, als wir nach sieben Jahren erneut einen Anstieg der Zahl der Obdachlosen ­verzeichneten. Wir gehen davon aus, dass dies eine ­Folge der Covid-Krise war. Nun wächst das Inter­esse an unserer Anlaufstelle Naděje wieder. Derzeit besuchen uns täglich ­circa 200 Obdachlose. Wir erwarten in der zweiten Jahreshälfte einen massiven ­Anstieg infolge der Inflation (2022 hat sie in Tschechien durchschnittlich 15,1 Prozent betragen und ist im Jänner weiter auf 17,5 Prozent angestiegen, Anm. d. Red.) und der Konjunkturabschwächung.

Wie schaffen Sie es, Ihre Klient:innen wieder in die Gesellschaft zu integrieren? Und welche Hindernisse sehen Sie dabei, insbesondere bei der Gesellschaft, aber auch bei Ihren Klient:innen?

Obdachlosigkeit ist ein komplexes Phänomen. Die Menschen sind damit in unterschiedlichen sozialen Situationen und mit unterschiedlich langer ­Dauer konfrontiert. Ungefähr die Hälfte der Klient:innen, die zum ersten Mal zu Naděje kommen, um Hilfe zu erbitten, nutzen die Dienstleistungen (sowohl in Tageszentren als auch die ­Unterkünfte) für kurze Zeit – maximal bis ein Jahr. ­Danach brauchen sie die Dienste von Naděje nicht mehr. Unserer Meinung nach haben sie sich dann sehr wahrscheinlich erfolgreich in die Gesellschaft integriert. Etwa sieben Prozent der Klient:innen kommen bzw. bleiben bis zu zehn Jahre. Mit anderen Worten, es gelingt ihnen langfristig nicht, sich von sozialen Diensten loszureißen und sich voll zu integrieren.
Gesellschaftliche Hindernisse haben strukturellen Charakter und sind allgemein bekannt: niedrige Löhne (Armut trotz Arbeit), unerschwinglicher Wohnraum, Mangel an ausreichend wirksamen Instrumenten zur Entschuldung, geringe Verfügbarkeit von sozialen Betreuungsdiensten (Altenheime, Heime für besondere Bedürfnisse), geringe Verfügbarkeit von psychiatrischer Versorgung etc. Auf Seiten der Klient:innen hängt es von Persönlichkeitsmerkmalen, Suchterkrankungen oder familiär bedingter Vererbung von Armut ab.