Zum Weizer Modell der Flüchtlingsbetreuung
Ein Willkommensnetzwerk, zu dem immer mehr Gemeindebewohner_innen finden, hat sich über die oststeirische Bezirkshauptstadt Weiz ausgebreitet. Die Politiker_innen in Wien sollten sich die Ideen zu Gemüte führen, die in Weiz realisiert werden, um im polarisierenden Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen für Deeskalation zu sorgen. Der Einwand, Wien sei zu komplex für ein von der Stadtregierung unterstütztes zivilgesellschaftliches Willkommens-Netz, sollte nicht zugelassen werden. Von Robert Sommer.Leben – und leben lassen. Das ist eine in großen Städten gar nicht selten anzutreffende Lebenseinstellung, die den Menschen resistent macht gegen die medial geschürte Angst, unsere Gesellschaft werde von Flüchtenden «überschwemmt» und gerate in Folge in den Sog ihrer Kultur. Die angewandte Solidarität mit Flüchtlingen kann auch sozialistisch motiviert sein: als Akt der Vorwegnahme einer sozial gerechten Weltordnung. Sie kann anarchistisch motiviert sein und sich als praktische Kritik nationaler Grenzen ausdrücken, die als von Eliten konstruiert erachtet werden. In den kleinen Gemeinden der österreichischen Bundesländer kann passieren, dass eine Willkommenspolitik gegenüber Asylsuchenden von Gemeindebürger_innen getragen wird, die – sich auf ihren christlichen Glauben stützend – oft sehr weit gehen in der Begegnung mit den im Ort gestrandeten «Fremden». Oft nehmen sie Einschränkungen ihres eigenen bisherigen «guten Lebens» in Kauf. Letzteres trifft man in der oststeirischen Bezirksstadt Weiz.
Ohne leidenschaftliche Persönlichkeiten, die ihre Nachbarn oder die Ortsbewohner_innen mitreißen können, auch weil sie sich über die Zumutung hinwegsetzen, sich einem der traditionellen politischen Lager zugehörig fühlen zu müssen, geht in der Regel gar nichts. In Weiz spielt der Theologe Fery Berger, in der Region auch als Gründer der Basisbewegung «Solidarregion Weiz» bekannt, diese integrative Rolle. Als vor rund zehn Monaten die Gemeinde zu entscheiden hatte, wie ihr Beitrag zur «Bewältigung des Flüchtlingsstroms» aussehen sollte, konnten Berger und seine Gesinnungsgenoss_innen, die inzwischen die NGO «Way of Hope» gegründet hatten, schon ein Zwölf-Punkte-Konzept vorweisen: das «Weizer Modell der Flüchtlingsbetreuung». Berger verschweigt nicht den christlichen Hintergrund der Engagierten, legt aber Wert auf die Feststellung, dass die Bewegung überparteilich und überkonfessionell ist.
Jede Flüchtlingswohnung muss zentrumsnah sein
«Seit Dezember vorigen Jahres leben 37 Flüchtlinge in Weiz. Sie haben Wohnungen bekommen, in denen sie manchmal zu dritt, manchmal zu fünft, im Spitzenfall zu acht leben. Je nach Größe der Wohnung. Von jeder Wohnung aus ist das Zentrum der Kleinstadt zu Fuß leicht erreichbar, auch unsere Organisation. Das war ein Kriterium der Wahl der Wohnungen. Für jede Wohnung gibt es inzwischen einen Kreis von Ehrenamtlichen, der die Asylwerber – es sind mit einer Ausnahme tatsächlich nur Männer – persönlich begleitet. In vielen Fällen kooperieren diese Wohnungskreise, sodass sich mittlerweile ein Freundschaftsnetz über die ganze Stadt zieht. Ständig kommen neue Leute hinzu – die Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Über das Netzwerk werden Mitfahrgelegenheiten nach Graz offeriert (damit nicht autostoppen muss, wer beim Grazer Augustin-Pendant «Megaphon» einen Termin hat), oder es wird gemeinsames Kochen organisiert» … Fery Bergers Überblick über die Weizer Integrationserfolge mutet wie ein beschönigendes Gegenbild zu Straches «Flüchtlingshölle» an.
Berger hört den Einwand und fährt mit der Erfolgsbilanz des Weizer Modells fort, denn die bewundernswertesten, manchmal unglaublichsten Fälle lokaler Solidarität hat er noch gar nicht aufgezählt. «Schon am zweiten Tag nach der Ankunft der Flüchtlinge hat sich ein pensionierter HTL-Lehrer gemeldet, der ehrenamtlichen Deutschunterricht anbot. Seitdem bringt er den Flüchtlingen täglich zwei Stunden lang die deutsche Sprache bei. Er tut das so gut, dass einer der Flüchtlinge, ein 25-jähriger Syrer, der kein deutsches Wort sprach, nach sieben Monaten schon die Führerscheinprüfung schaffte. Erleichternd ist, dass die meisten Betroffenen eine gemeinsame Muttersprache haben. Sie kommen aus Syrien. Einzelne Neo-Weizer stammen aus dem Irak, aus Persien und aus Afghanistan; auch ein Flüchtling aus Tibet ist in der Oststeiermark gelandet.»
«Inzwischen gibt es acht Leute aus unserer Stadt, die als Deutschlehrer_innen tätig sind», so der begeisterte Initiator des Vorzeigeprojekts. Dass es sich um ein Vorzeigeprojekt handelt und alles andere als die Selbstverständlichkeit humaner örtlicher Asylpolitik widerspiegelt, ist leider Fakt. «Am Beginn dieses Jahres gab es in Passail, einem 2000-Einwohner-Ort im Bezirk Weiz, enorme Widerstände gegen Flüchtlinge; eine Informationsveranstaltung wäre beinahe aus dem Ruder gelaufen. Anfang September wurde in Birkfeld, einer ebenso großen Gemeinde des Bezirks, gar nicht mehr nur zu einer Informationsveranstaltung eingeladen, sondern fanden sich bereits Menschen ein, die bereit sind, freiwillig mitzuarbeiten. Man glaubt es kaum. Es kamen 62 Leute. Es ist großartig, wie sich Ehrenamtliche jetzt einbringen. Die Zivilgesellschaft übernimmt die Initiative. Ich bin mir sicher, dass jetzt auch die Bürgermeister nachziehen werden. Sie getrauten sich bis jetzt oft nicht, da sie die Meinung an den Stammtischen kennen und weil sie immer auch an die nächsten Wahlen denken», glaubt Fery Berger.
Es geht ein Ruck durch unser Land
In der Stadt Weiz selber stehe nicht nur der Bürgermeister hinter dem «Way of Hope»-Programm: Sogar die Freiheitlichen haben ihre Zustimmung versichert. Und auf den Pfarrer von Weiz könne man sich sowieso verlassen: «Wir danken dem Pfarrer, dass eine neue Flüchtlingsfamilie in das Mesnerhaus, direkt neben der Weizbergkirche, einziehen kann. Damit ist die Flüchtlingsgruppe auf 41 Menschen angewachsen. Wir rechnen damit, dass die Hälfte der Betroffenen bei uns in der Gemeinde bleibt.» Das sei im Grunde auch für die Kleinstadt eine Bereicherung, meint Berger. Denn Asylwerber_innen hätten auch den Weizer_innen einiges zu geben. Jeder und jede hätte Talente, Fähigkeiten und einen Beruf, den er oder sie «in unsere Gesellschaft einbringen möchte».
Für die modellhafte Kooperation zwischen katholischer Pfarre, evangelischer Pfarre und Stadtgemeinde «beneiden uns viele», lächelt Fery Berger. Er vermeidet jedoch den Eindruck, Weiz beanspruche auf diesem Gebiet eine Avantgarde-Rolle. In der Stadt Gleisdorf etwa haben der Pfarrer und der Bürgermeister gemeinsam den Nahostexperten Karim El-Gawhary eingeladen, um der Gemeindebevölkerung die Realität im Hauptherkunftsland Syrien zu veranschaulichen. Die Aufklärungsveranstaltung wurde von einem halben Tausend Stadtbewohner_innen besucht. Alle Gleisdorfer Haushalte konnten anlässlich der Aufnahme der Flüchtlinge einen berührenden Brief des Bürgermeisters im Postkasten finden. Er scheute sich nicht, auf ein rund um Stammtische stark flottierendes Klischee einzugehen: Niemand kümmere sich um die «eigenen» Armen so wie um die fremden. «Uns war bei diesem Schritt vollkommen klar», schrieb Stadtoberhaupt Christoph Stark, «dass es auch in Österreich Menschen gibt, denen es nicht gut geht und die finanziell zu kämpfen haben. Wem, wenn nicht unserer hochentwickelten Gesellschaft, ist aber zuzumuten, in einer Situation wie dieser die helfende Hand auszustrecken!»
Das macht auch den Weizer Tausendsassa Fery Berger zuversichtlich: «Es geht ein solidarischer Aufbruch durch das Land. Ich glaube, dass dieser unvorstellbar grausame Tod von 71 Unschuldigen im Kühlwagen mehr bewirken wird, als wir uns bisher vorstellen können; sowohl bei den Menschen persönlich als auch in der Politik. Es ist etwas in Bewegung gekommen. Ich merke es an den Reaktionen, Anrufen, Mails und Facebook-Nachrichten, die ich seit dem Bekanntwerden dieser burgenländischen Tragödie bekommen habe. Leute fragen, was wir brauchen, bieten ihre Mitarbeit an, wollen spenden, Wohnungen zur Verfügung stellen …» Das ist auf Fery Bergers Facebook-Seite zu lesen. Der sogenannte Mann auf der Straße, der bisher alle Flüchtlinge sofort zurückschicken wollte (um es harmlos auszudrücken), habe jetzt zumindest registriert, dass es «arme Teufel» sind, vor denen er «die Unsrigen» bisher retten wollte. «Es kommt jetzt eine intensive Zeit auf uns zu», prognostiziert (nicht nur) Fery Berger.