BAD ist eine Untertreibungtun & lassen

Outlaw Legends: James Carr starb im Kugelhagel – wessen Kugel?

Manche Menschen sehen die Welt mit einem unerbittlichen, brutalen Durchblick. Ihre Welt. Klar. Im Falle James Carrs führte dies dazu, dass er mit neun Jahren seine Schule abfackelte, weil er sich als Schwarzer von einem Lehrer der Anstalt ungerecht behandelt fühlte. Ein weiteres Outlaw-Legends-Porträt von Jakob Lediger.

Foto: Thomas P.E. Rothchild

Eigentlich wollte er ja nur das Zimmer des Lehrers in Flammen aufgehen lassen und nicht gleich die ganze Einrichtung, aber am Ende erfüllte die Brandruine ihn mit Stolz.

Geboren wurde Carr 1942 oder ’43 in Watts, Los Angeles, jenem Watts, das die berüchtigten «Unruhen» von 1965 hervorbrachte, einem Ghetto der Schwarzen, wie es von der liberal-faschistischen Gesellschaft der «United States of America» im ganzen Land verteilt eingerichtet wurde, weil sie mit der vorgeblichen Abschaffung der Sklaverei und Unterdrückung seit dem «Civil War» (auch: Sezessionskrieg, 12. April 1861 bis 9. April 1865, offiziell 600.000 Tote) bis heute noch nicht wirklich weitergekommen ist. Geschichte hat einen langen Atem. So gesehen hat der «Süden» gewonnen.

In den «United Slaves of America» kommen laut einer Studie aus dem Jahr 2013 auf 100.000 Einwohner 716 Häftlinge. Damit führt das Land diese Statistik mit beeindruckendem Vorsprung (in Russland sind es 475. China dahinter weit abgeschlagen mit 121. Österreich: 98). Weiteres Detail: 37 % der Häftlinge sind schwarz, während der Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 13,2 % beträgt.

I’ver been struggeling all my life to get beyond the choice of living on my knees or dying on my feet

Seine Mutter kannte Carr recht gut, wenngleich sie ihm aufgrund ihres Alkoholismus nicht oft a real mother sein konnte. Präsenten Vater gab es keinen. Geschwister schon, allerdings hatte er keine Gelegenheit, nähere, tiefere Beziehungen zu diesen aufzubauen, weil das schlicht unmöglich ist, solange jeder Tag, jede Stunde, jede Minute des Lebens dem Überleben geschuldet bleiben muss. Zu viel Gefühl tut nicht gut. Hilft einem nicht weiter.

Kurz vor seinem gewaltsamen Tod in Los Angeles 1972 diktierte James Carr einem Tonband seine Autobiografie, die den kurzen, aber offenherzigen Titel «Bad» trägt. Das entstandene Buch, das erst posthum publiziert werden konnte, wurde bald nach seinem Erscheinen auf die schwarze Liste des Landes des free speech gesetzt. Es erreichte dennoch seine Leser_innenschaft, indem es unter der Hand verteilt wurde. Heuer gelang nach mehreren «schwarzen Ausgaben» (kein Witz!) eine offizielle Neuauflage mit weltweitem Vertrieb. Das macht 44 Jahre Systemträgheit. Die Zeit tickt nicht überall gleich. Beim Thema Rassendiskriminierung tickt sie sogar so langsam, dass es heute manchmal scheint, sie habe kehrtgemacht und laufe wieder zurück in die «gute, alte Zeit». Nicht nur in den «Usurped States of America». Die Privatisierung vieler Haftanstalten hat die Sklaverei wieder voll aufleben lassen. (Ich will hier keine Firmen nennen, aber wenn Sie, verehrte Leser_innen des Augustin, wieder einmal gemütlich auf einer Couch lümmeln, überlegen Sie kurz, wer die wohl wo und unter welchen Bedingungen hergestellt hat).

«Bad», dieser 200 Seiten umfassende Band, wäre bloß eine weitere Selbstdarstellung eines vom Leben Überwältigten, hätte James Carr es nicht mit absolut schonungsloser Ehrlichkeit verfasst. «Bad» ist in diesem Sinn eine Untertreibung; egal, ob nun das penitentiary system («the pen») der «Uniformed States of Aryan Brotherhood» der 50er und 60er des vorigen Jahrhunderts thematisiert wird oder seine eigene kriminelle Energie und Entwicklung. In chronologischer Geschichts­treue schildert er darin Kapitel für Kapitel seinen Werdegang vom 9-jährigen Feuerrächer zum aufständischen Agitator, den er bis zuletzt weit länger innerhalb von Gefängnismauern absolvierte als außerhalb. Sein Leben war so verkehrt proportional zur american society, dass die Wahrnehmung von drinnen und draußen umgedreht schien.

I’m learning how to get out oft the pen without leaving

Carr konnte nach einiger Zeit sein Leben in the mainline weit besser strukturieren und erhalten als in der Außenwelt. Weil drinnen vieles nach seinen Regeln lief, den rules seiner Gang, dem wolf pack.

Bis er so weit war, lernte er und wuchs zu einschüchternder Konstitution heran; er schlägerte, vergewaltigte und tötete sich in einer gnadenlosen Rangordnung nach oben an den Zenit von Soledad State Prison, «Q» (San Quentin) und Folsom. (Die Jugendstrafanstalten davor machen eine lange Liste aus – lest das Buch.)

Seine Vorteile: optimale körperliche Entwicklung und ein kühler Intellekt. Beides erlaubte ihm bald jedes Mittel anzuwenden, um alive bleiben zu können. Mit losers kannte er kein Mitgefühl, die vergewaltigte er vielleicht (made them homos), tötete sie manchmal, presste ihnen deren Essensrationen und Zigaretten ab, oder überließ sie, den rules folgend, jemandem in Augenhöhe, dem er einen Gefallen schuldete. Konnte auch umgekehrt laufen. Bad indeed.

Dudes didn’t want to be running with guys who hadn’t proven themselves in battle. Nobody thought about trying to resolve disagreements peacefully

Politisches Denken und Handeln kam allerdings erst nach der Bekanntschaft mit George Jackson hinzu: agitate.

Das hieß permanente Bereitschaft zu jedweder Gefängnisrevolte bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Oberste Regel: selbst überleben. Zweitwichtigste Regel: möglichst viele Gegner schwächen, ausschalten, demoralisieren, töten.

Alle außer den Gangmitgliedern waren Gegner: Die Wachmannschaften (the cops), alle Weißen (the nazis), alle Mexikaner (the spics), Indigenen (the indians) und Schwarze (the blacks), die einem gefährlich werden konnten.

Dritte Regel: nicht als Urheber auffallen. Das gelang Carr nicht immer. So landete er in allen Gefängnissen immer wieder im Rahmen des AC (Adjustment Center, verschärfter Strafvollzug) in the hole: Haftverschärfungen, die nur mit dem Begriff Folter (torture) zu umreißen sind: Nahrungsentzug, Isolation, Hygieneentzug, Lichtentzug oder Dauerlicht und natürlich, je nach Laune und Besetzung der Wachmannschaft, Schläge, Demütigungen, Schläge und immer wieder Schläge. Adjustment: Anpassung, Richtigstellung, Anordnung. Gutes Beispiel für Euphemismus der «United Stains of America».

Nicht zufällig wählte Carr in seinem Buch eine solche Strafverschärfung als erzählerischen Rahmen: Er im Loch reminisziert sein Leben als the baddest motherfucker, wie George Jackson ihn nannte.

Dieser George Jackson war einer der wenigen, die Carr als real friend bezeichnete: Jackson imponierte ihm, er wusste sich zu behaupten, war loyal und verkörperte jene authentische attitude der black power, die er in eindrucksvoller Manier in den als Soledad Brother 1970 herausgebrachten «Prison Letters of George Jackson» offenlegte. Seine Ziele (Stichwort: Panafrikanismus) und Strategien deckten sich zunächst noch mit denen der in der 60ern gegründeten Black Panther Party. Doch deren Personenkult rund um die beiden Gründer H .P. Newton und B. Seale missfiel ihm zusehends. Er starb im März 1972 auf dem Gefängnishof von «Q». Ein Wärter hatte ihn erschossen. Motiv: ungeklärt. Morde im Gefängnis werden nicht ausjudiziert.

Carr selbst kehrte den Panthers ebenfalls den Rücken und formulierte seine Motive noch kurz vor seinem eigenen Tod im selben Jahr in einem Brief an seine weiße Frau Betsy Carr:

We decided long ago to negate our individuality, for only thus is it possible to serve those whom you claim to represent. A movement must never center around one or a group of people, for if it does, at that point it marks itself for its very doom.

Er starb am 5. April 1972 im Kugelhagel direkt vor seinem Wohnhaus in Los Angeles. Auch dieser Mord wurde nie aufgeklärt und ist eine nahrhafte Spekulationsküche, die den Täterkreis von der Agency, dem FBI über gang rivalry bis hin zu den Black Panthers zieht.

Nobody knows but Hoover, vermute ich.