Bahnhof in der roten Zonevorstadt

Über Bahnhofsrestaurationen (3/5)

Vor 14 Jahren war Graz europäische Kulturhauptstadt. Ungefähr genauso lang gibt es am dortigen Hauptbahnhof keine klassische «Bahnhofsreste» mehr – bedauert Chris Haderer (Text & Fotos).

Der Grazer Hauptbahnhof ist ein Ameisenhaufen. Laut ÖBB verteilen sich jeden Tag 40.000 Menschen auf 520 Züge; die Zurückbleibenden, die Einkaufenden und die Bewohner_innen des Areals nicht mitgerechnet. Außerhalb von Wien ist es der meistfrequentierte Bahnhof der Alpenrepublik, ein Knoten zwischen der Südbahn, der Graz-Köflacher Bahn, der steirischen Ostbahn, der Koralmbahn und etlichen Autobuslinien. Mit seinen Straßenbahnunterführungen und der eingebauten Shoppingmeile erinnert er ein bisschen an den Linzer Hauptbahnhof, wo in den letzten zwei Jahrzehnten auch kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Seine Historie ist relativ lang und beinhaltet drei Auferstehungen: erstmals 1844 eröffnet, dann im Rahmen der Bahnelektrifizierung um 1914 komplett umgebaut – um im Zweiten Weltkrieg den alliierten Bomben zum Opfer zu fallen. Vom Neubau ist nur die denkmalgeschützte Halle geblieben, die Infrastruktur wurde im Rahmen des 2020-Modernisierungsplans der ÖBB erneuert – von der alten Bahnhofsreste bis zur Schließung des an das eigentliche Bahnhofsgebäude angepflanzten «Nonstop»-Kinos. Bei seiner Eröffnung im Jahr 1956 gehörte es zu den modernsten Lichtspielhäusern des Landes, in den 1970er-Jahren fokussierte das Programm dann mehr die horizontale Filmkunst; in den letzten Jahren profilierte sich das Nonstop auch als Eventlocation. 2010 kündigten die ÖBB den Vertrag, und das denkmalgeschützte Gebäude musste geräumt werden – obwohl es vom Bundesdenkmalamt «als bedeutendes Dokument für die Kino-Architektur der 1950er-Jahre in Graz sowie überregional als charakteristisches Beispiel für ein Nonstop-Kino am Bahnhof» angesehen wird.

Schnelle Schritte.

Der Bahnhof kanalisiert die Menschen. Vom Vorplatz weg folgt man unsichtbaren Markierungen, zu den Gleisen, Busstationen oder Geschäften, und in die Gegenrichtung. Der Untergrund, in dem man sich nach der Ankunft findet, mit Schließfächern und einem Imbissstand, ist funktionell, aber scheußlich. Die Halle wiederum ist ein visueller Rundumschlag. Seit 2003, dem Jahr, in dem Graz europäische Kulturhauptstadt war, werden die Wände von einer 2355 Quadratmeter großen Kunstinstallation von Peter Kogler bedeckt – eine Art farblicher LSD-Trip, der sich von hinten anschleicht und sich Gott sei Dank nicht bewegt. Nicht zuletzt deshalb wurde Graz von den Fahrgästen gleich zweimal zum schönsten Bahnhof gekürt (Drogentests wurden dabei keine vorgenommen). Der Kulturhauptstadt ist auch ein Stück Bahnhofskultur gewichen, nämlich das Restaurant nahe dem Gleis 1, mit einer dunklen Ausschank, einem recht essbaren Gulasch und einer Öffnungszeit, bei der man in Ruhe den letzten Zug nach Wien abwarten konnte; umgeben von einem steirisch dominierten, aber meistens doch unverständlichen Sprachgemisch. Vor 2003 fühlte ich mich dort wohl wie Robert Walser: «Schon das Bild, das der Bahnhof mit dem Kommen und Gehen von Leuten zusammensetzt, kann als denkbar angenehm bezeichnet werden, und dann sind ja speziell die Geräusche, das Rufen, Sprechen, Räderrollen und das Hallen der eiligen Schritte belebend und erfreulich», formulierte der Dichter in seinem Text «Der Bahnhof (II)». Die eiligen Schritte sind mehr geworden, sie sind schneller; die wenigsten führen zu einer echten Reise, sondern nur von einem Ort zum anderen. Die «Reste» hat sich zu Backshops, Fastfood- und Sandwichläden sowie einem Italiener gehäutet. Ein wahrhaftiger Wirt lebt hier nicht mehr – und der beste Platz am Grazer Hauptbahnhof ist das Espresso links vom Eingang, in dem man noch rauchen darf.

Gruß aus der Vergangenheit.

Bisweilen kann der Grazer Hauptbahnhof ein recht gefährlicher Ort sein; nicht, weil er sich diesseits der Mur befindet, wo auch das Rotlichtviertel zu Hause ist, sondern wegen dann und wann gefundenen Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg. Im März 2011 beispielsweise wurden die Grazer gegen 22 Uhr von einem in der ganzen Stadt hörbaren Knall geweckt: Es war der Wiederhall der kontrollierten Sprengung einer Fliegerbombe, die bei den Grabungen für die bislang oberirdisch verlaufende Straßenbahn gefunden wurde. Wo heute der Bahnhofsvorplatz liegt, bedeckt von einer ovalen, «Golden Eye» genannten, Dachkonstruktion, durch die im Winter der Wind heult und die ein bisschen wie ein UFO-Landeplatz aussieht, könnten noch weitere Grüße aus der Vergangenheit verborgen sein. Laut dem (öffentlichen) Bombenkataster von Graz liegt der Hauptbahnhof in einer tiefroten Zone. Zwischen 20 und 50 Blindgänger könnten noch irgendwo im Bauch der steirischen Landeshauptstadt schlummern, vermutet man im Rathaus. Versteckte Blindgänger sind der Grund, warum von der unterirdisch verkehrenden Straßenbahn vor dem Bahnhof kein direkter Zugang zu den Tunneln im Bahnsteigbereich existiert – bei den Grabungsarbeiten könnte man auf weitere Bomben stoßen. Marcel Proust hätte sich vielleicht bestätigt gefühlt, denn er zog eine Reise mit dem Auto der Bahn vor, und die Bahnhofshallen waren für ihn ein «riesiger grauer, unheilschwangerer Himmel» unter dem «sich nur irgendwelche schreckliche und feierliche Dinge ereignen können, wie eine Abreise mit der Eisenbahn oder die Aufrichtung des Kreuzes». Das Hotel Daniel am Rand des Europaplatzes überragte ein offensichtliches Kriegsgebiet, der Fensterfront des Hotels Ibis fehlte das Glas und der historischen Bahnhofsuhr ein leuchtender Zeiger. Damals, auf der Weiterfahrt mit der Graz-Köflacher Bahn in den steirischen Süden, fiel mir auf, dass es auf kaum einem kleinen Provinzbahnhof zwischen Graz und Wies-Eibiswald noch eine Bahnhofsuhr gibt. Zeit verschwindet aus dem öffentlichen Raum, und ohne Uhr bleibt die Abfahrt des nächsten Zuges in einem unbestimmten Dunkel.

Gott schütze Österreich.

Historische Prominenz war in Graz zuhauf zugegen. Der für den Vampir Dracula verantwortliche Autor Bram Stoker wollte seinen spitzzahnigen Dämon ursprünglich in der Südoststeiermark ansiedeln. Ein vom schottischen Philosophen David Hume veröffentlichter Reisebericht über die Gegend um das Wasserschloss Hainfeld fand seinen Niederschlag 1872 im Roman «Carmilla» des irischen Schriftstellers Joseph Sheridan Le Fanu, der als Geburtshelfer des modernen Vampirmythos gilt. Dieser Roman wiederum beeinflusste Stoker, der seinen Vampir in dieser «gottlosen» Landschaft ansiedeln wollte, sich dann letztlich aber doch für Transsylvanien entschied. Das war im Jahr 1897. Ein knappes Arbeitsleben später kam ein anderer Dämon nach Graz, mit der Eisenbahn in einem Sonderzug von Bischofshofen und Selzthal über St. Michael, Leoben und Bruck an der Mur. In der stillgelegten Weizer Waggonfabrik am Hauptbahnhof hielt Adolf Hitler, knapp drei Wochen, nachdem Bundeskanzler Schuschnigg mit den Worten «Gott schütze Österreich» abgedankt hatte, seine «Wahlrede» in Graz. Laut der «Kleinen Zeitung» jubelten ihm über 400.000 Menschen zu, von denen nur 20.000 in der Waggonhalle Platz hatten – für alle anderen wurde Graz mit Lautsprechern beschallt, mit dem Hauptbahnhof als Epizentrum. Die Bilder, die es von damals gibt, aus denen fahnenschwingende Begeisterung tropft, erinnern an eine Dystopie des in Berlin geborenen und in der DDR aufgewachsenen Schriftstellers Günter Kunert; an «Zentralbahnhof», eine 1972 veröffentlichte Kurzgeschichte. «An einem sonnigen Morgen stößt ein Jemand innerhalb seiner Wohnung auf ein amtliches Schreiben: Es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse», beschreibt Kunert einen beunruhigenden Vorfall. «Sie haben sich, befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier, am 5. November des laufenden Jahres morgens acht Uhr in der Herrentoilette des Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden.» Der Jemand fragt seine Freunde um Rat, bekommt aber keinen und entschließt sich die ihm zugedachte Kabine 18 am Zentralbahnhof aufzusuchen: «Wahrscheinlich ein Druckfehler. In Wirklichkeit sei ’Einrichtung’ gemeint. Warum nicht? Durchaus denkbar findet es der Rechtsanwalt, daß man von seinem frisch gebackenen Klienten verlange, er solle sich einrichten. Abwarten. Und vertrauen! Man muß Vertrauen haben! Vertrauen ist das wichtigste.» Und voller Vertrauen begibt er sich in den Bauch des Bahnhofs, setzt sich in die leere Toilettenkabine. «Eine Viertelstunde später kommen zwei Toilettenmänner herein, öffnen mit einem Nachschlüssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus, um ihn in die rotziegeligen Tiefen des Zentralbahnhofes zu schaffen, von dem jeder wußte, daß ihn weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über seinem Dach der Rauch angeblicher Lokomotiven hing.»