Balanceakt auf höchstem Niveauvorstadt

Als am Donaukanal noch ein richtiges Spektakel geboten wurde

Es war ein historischer Drahtseilakt, als der «Seiltänzer» Josef Eisemann ein Monat lang über den Donaukanal balancierte, bis er am 17. Juli 1949 abstürzte. Karl Weidinger blickt anlässlich der neuesten Theaterproduktion von «Wiendrama» auf den wörtlich zu verstehenden Fall zurück.

Foto: Bezirksmuseum Landstraße

Der Donaukanal wird von 22 Straßen- und 6 Eisenbahnbrücken sowie fünf Fußgängerstegen überquert. Seit Mai 2008 kann der Donaukanal von U-Bahn-Benutzer_innen auch zu Fuß unterquert werden. Die Bahnsteige der U2-Station Schottenring führen quer unter dem Flussbett unter der Wasserlinie durch und verfügen über einen Ausgang zur Herminengasse im 2. Bezirk. Die unüblichste, aber auch gefährlichste Art der Überquerung wählte Josef Eisemann, der im Jahre 1949 genau ein Monat lang den Donaukanal auf einem 120 Meter langen Drahtseil in 40 Metern Höhe überquerte.

Er war ein Akrobat. Ein Seiltänzer, der einen Traum hatte. Vielleicht auch ein Traumtänzer, als er das Nachkriegswien mit einem Spektakel beehrte. Schnell wurde er Tagesgespräch. Im Bereich der Einmündung des Wienflusses in den Donaukanal wurde eine 95 mal 200 Meter große Wasserfläche als Wendebassin für Schiffe errichtet, später aber wieder zugeschüttet und dort der Herrmannpark angelegt. Diesen gut einsehbaren Ort hatte der damals 37-jährige Akrobat Josef Eisemann für seine halsbrecherische Attraktion ausgewählt.

Josef Eisemann war ein Donauschwabe. 1947 verschlug es ihn mit Frau und den beiden Kindern Peter und Rosa nach Wien, wo er eine Herberge in Zentrumsnähe fand. Um hier überleben zu können, wollte er sich wieder als Artist betätigen. Als «Kraftmeier» entwickelte er eine artistische Nummer, bei der er den Donaukanal in luftiger Höhe auf einem Seil überqueren wollte – ohne jegliche Schutzvorkehrung. Gefährlich wäre es nur auf den ersten und letzten Metern, meinte er, während jener Strecke über festem Boden. In der Mitte würde er nur ins Wasser stürzen.

Für sein Vorhaben sondierte er die Bausubstanz. Die Häuser beim Donaukanal waren eine Verteidigungslinie gewesen und immer noch stark zerstört oder arg beschädigt. Eisemann setzte einen Befestigungsanker im DDSG-Gebäude in der Innenstadt vor dem Treppelweg der Dampfschiffstraße, unweit der Urania. Im gegenüberliegenden Leopoldstädter Ufer sollte der Gegenpol in der Unteren Donaustraße 31 an der Ecke Ulrichgasse sein. Dabei war ein beträchtlicher Höhenunterschied zu überwinden. Doch die gute Lage und der freie Platz sprachen für diesen Ort. Somit blieben 120 Meter Wegstrecke auf höchstem Niveau: Die Differenz zwischen den beiden Ankerpunkten in etwa 40 Metern Höhe betrug drei Meter.

(zwiti)

Nervenkitzel mit behördlicher Freigabe

Das damalige Wien unterschied sich kaum vom heutigen. Der Wiener Magistrat überprüfte die Verankerungen des Seils und erteilte die behördliche Freigabe zur Bewilligung einer Durchführung zwecks Vorführung eines Kunststückes für die Dauer eines Monats. Das 120 Meter lange Drahtseil in Höhe von 40 Metern über dem Fluss wurde zur fixen Installation. Das Spektakel konnte beginnen. Eine willkommene Abwechslung im trostlosen Alltag. Ein spannender Nervenkitzel, über den alle sprachen, und den Eintritt von einem Schilling gerne entrichtete.

Am Freitag, dem 17. Juni 1949 stieg die Premiere bei prächtigem Sommerwetter, heiß und windstill. Die Zuschauer_innen applaudierten begeistert und verbreiteten stadtweit den Wagemut des 37-jährigen Artisten.

Bei Schönwetter gab es zwei Aufführungen täglich. Eine Lichterkette aus Glühbirnen war oberhalb des Drahtseils verstrebt, um das Spektakel auch bei Mondlicht zu beleuchten. Von der Urania tasteten Scheinwerfer das Geschehen ab. Eine Musikkapelle und ein Anheizer untermalten die Übergänge. Ein LKW auf der Aspernbrücke hatte eine Lautsprecheranlage an Bord.

Am Abend des 17. Juli sollte die Kanalüberquerung mit einer «Person aus dem Publikum» stattfinden. Die Auserwählte war Tochter Rosa, 16 Jahre alt. Und möglicherweise hat sich der tollkühne Künstler mit dieser Aufgabe übernommen. Insgesamt hatte er seine eigenen 80 Kilo, die 50 Kilo der Tochter und die 30 Kilo der Balancierstange über den Kanal zu befördern. Doch zunächst, es war gegen 20 Uhr 30, vollbrachte Eisemann wie immer seine Solo-Kunststücke. Er fuhr Fahrrad auf der Felge, hoch am Seil, sprang von einem Sessel, machte allerhand Übungen und Verrenkungen, um die Blicke gebannt nach oben zu richten. Elegant im Anzug gekleidet, hob sich seine Gestalt eindrucksvoll vor dem abenddämmernden Sommerhimmel ab.

Die Schaulustigen waren in Scharen gekommen und säumten den Uferbereich. Doch dann ereignete sich etwas Unvorhergesehenes. Rosa fiel beim Aussteigen aus dem Boot, das sie rübergebracht hatte, ins Wasser. Zitternd, mit nass schwerer Kleidung rettete sie sich an Land und begab sich in Position.

Unter den Klängen der Musikkapelle gingen die beiden bis zur Mitte des Seils. Dort hielt der Akrobat inne, schien irritiert zu sein und versuchte den Sitz des Mädchens zu korrigieren. Die Zuschauer_innen maßen dem keinerlei Bedeutung bei, kam es doch öfter vor, dass Eisemann leichte Schwierigkeiten vortäuschte, um die Spannung zu erhöhen. Vorsichtig setzte er seinen Weg fort. Erst sobald er es geschafft hatte, setzte die Musik ein und begann wieder zu spielen. All dies bewirkte, dass sich bei beiden eine sonst nicht gekannte Unsicherheit einschlich.

Sie setzte sich auf die Schultern ihres Vaters. Über dem Wasser wurde es gespenstisch still. Es fehlten nur noch wenige Schritte bis zum rettenden Ausstieg. Doch dann geschah das Unglück. Beide verloren das Gleichgewicht, Eisemann entglitt die Balancestange. Vater und Tochter stürzten in die Tiefe. Die Menge schrie auf, stob auseinander, die Scheinwerfer erloschen. Die beiden Körper schlugen auf dem Treppelweg auf und blieben schwer verletzt liegen. Obwohl der Rettungsdienst schon nach wenigen Augenblicken zur Stelle war, erlagen sie ihren Verletzungen, berichtet Peter Payer in seinem 2011 erschienen Buch «Stadt unter Schock. Der Todessturz des Seiltänzers Josef Eisemann im Sommer 1949» (Metro Verlag).

Die damaligen «Gutmenschen» errichteten ein Holzkreuz mit Blumen und einer Spendenbox, die auf die Armut der zurückgebliebenen Familie hinwies. Der Ort des Geschehens hat sich verwandelt. Treppelweg und Herrmannpark wurden neu gestaltet, das DDSG-Gebäude durch einen Neubau ersetzt. Nur das Wohnhaus am Leopoldstädter Ufer, von dessen Dachboden Eisemann einst eingestiegen war, ist heute noch vorhanden. Soweit der historische Teil.

Gegenschnitt: Die Theaterkooperative «Wiendrama» wurde 2013 vom Dramatiker Bernd Watzka gegründet. Ziel ist die Balance zwischen Hochkultur und Unterhaltung mit künstlerischem Anspruch. Genres wie Pop-Komödie, Trash, Volksstück und Farce halten sich die Waage. Zentrales Element der Stücks «Eisemann – der Tänzer, der vom Himmel fiel» ist es, Gleichgewicht zu halten. Denn der Verlust von Balance führt zum Absturz, so die Aussage.

(Bildunterschrift – Hermannpark)

Seiltänz zwischen Hermannpark und Urania: Ausgehend vom Leopoldstädter Ufer in der Unteren Donaustraße 31 zum gegenüberliegenden Treppelweg vor der Dampfschiffstraße

(Bildunterschrift – eisemann)

In einer Höhe von 40 Metern auf einer Strecke von 120 Metern agierte Josef Eisemann

(Bildunterschrift – wiendrama)

Der Verlust von Balance führt zum Absturz – theatral vom «Wiendrama» anhand der Figur des Seiltänzers Josef Eisemann aufbereitet

INFO

«Eisemann – der Tänzer, der vom Himmel fiel» von Bernd Watzka. Mit Gioia Osthoff, Partick Seletzky und Stefan Sterzinger, Live-Musik & Schauspiel, unter der Regie von Markus Kupferblum

Von 25. Mai bis 11. Juni 2016 an verschiedenen Orten in Wien (freier Eintritt am 2., 7. und 9. Juni)

Details: wiendrama.wordpress.com