Bald österreichisch, bald tschechischvorstadt

Foto: Wenzel Müller

Die Waldviertler Stadt Gmünd ist einmal ein zentraler Bahnknotenpunkt gewesen. Am Schicksal ihres Bahnhofs lassen sich die Kapriolen, die das 20. Jahrhundert schlug, wie unter einem Brennglas studieren.

 

České Velenice. Ein unspektakulärer Bahnhof. Von Wien kommend steigt man hier nach České Budějovice (Budweis) um. Wer den Aufenthalt nutzt, um in das Bahnhofsrestaurant einzukehren, kann ein wahres Wunder erleben. Plötzlich steht man in einem imposanten Raum, einem haushohen, mit Jugendstilornamenten an den Wänden. Ein Restaurant ganz im Stil eines eleganten Tanzsaals. In der Höhe ­Wappen jener Orte, in die man weiterreisen kann. Besser: ­konnte. Denn dies ist ein Relikt aus monarchistischen Zeiten, aus jener ­Epoche, als dieser Bahnhof noch zu Gmünd ­gehörte und ein bedeutender Bahnknotenpunkt war. Damals lag dieser Bahnhof genau in der ­Mitte der Franz-Josefs-Bahn, die Kaiser Franz Joseph ab 1869 zwischen Wien und Prag bauen ließ, im Übrigen von einem Franz-Josefs-Bahnhof zum anderen. Ein elektrisch angetriebener Trolleybus, einer der ersten seiner Art in der Monarchie, verkehrte ab 1907 regelmäßig zwischen der Gmündner Altstadt und dem etwa 2,5 km entfernten Bahnhof. Auch eine Eisenbahnwerkstätte, zur Wartung und Reparatur der Schienenfahrzeuge, wurde gleich ­neben dem Bahnhof errichtet, hier arbeiteten zeitweise bis zu 1.500 Menschen. ­Heute kaum noch zu glauben: Gmünd war einmal eine zentrale Eisenbahnstadt. Diesen Status verlor der Waldviertler Ort bald darauf, gewann ihn dann kurz zurück, um ihn schließlich wieder zu verlieren.

Doch der Reihe nach. An diesem Beispiel lassen sich wie unter einem Brennglas die großen Umbrüche des 20. Jahrhunderts studieren. Im August 1920 kommen Franz Kafka und Milena Jesenská in Gmünd zusammen. Er, der Versicherungsangestellte, der nach seinem Tod zum großen Schriftsteller aufsteigen soll, reist aus Prag an, sie, die Journalistin, Autorin und Übersetzerin, aus Wien. Er ist verlobt, sie verheiratet, beide unglücklich. Aus Kafkas Aufzeichnungen wissen wir, wie er Fahrpläne akribisch studierte, um dieses geheime Treffen zu arrangieren. Zu diesem Zeitpunkt gehörte der Bahnhof gar nicht mehr zu Gmünd. Sondern zu České Velenice. Der Grund: Die Friedensverhandlungen im Anschluss an den Ersten Weltkrieg besiegelten den Untergang des Habsburger-Imperiums und das Aufkommen eines neuen Staates: der Tschechoslowakei. Die Gebietsaufteilung zwischen Österreich und der Tschechoslowakei wurde neu geregelt – und der Bahnhof lag nun auf tschechischem Territorium.
Noch ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese Grenze durchlässig, doch sie bedingt unangenehme Passformalitäten, auch das wissen wir aus Kafkas Aufzeichnungen. Wie es mit den beiden Liebenden Kafka und Jesenská weiterging? Ein Ehepaar wurden sie nicht, doch sie blieben einander in Freundschaft verbunden, aus der Beziehung sind die schönen Briefe an Milena in Buchform hervorgegangen.
Uns interessiert allerdings das weitere Schicksal des Bahnhofs. Und da ist festzuhalten: Bald, ab 1938, gehört er wieder zu Gmünd. Zu jenem Zeitpunkt gibt es auch kein České Velenice mehr. Nur ein Gmünd I, II, und III. Die Deutschen haben das erzwungen, genauer: die Nationalsozialisten. Erst holten sie Österreich ins Deutsche Reich, dann die Randgebiete Böhmens und Mährens. Und bald überfallen sie weitere Länder, beginnen den Zweiten Weltkrieg. Am 23. März 1945, kurz vor Kriegsende, lässt die US Air Force Bomben über Gmünd niedergehen, in dreißig Minuten rund 1.000, dabei wird der strategisch wichtige Bahnhof zerstört.
In der Nachkriegszeit gehört der Bahnhof, mit erhaltenem Bahnhofsrestaurant, erneut zu České Velenice. Durch die vormals (unter Zwang) geeinte Stadt verläuft nun der Eiserne Vorhang. Wie in Berlin. Aug in Aug stehen sich hier Ost und West feindlich gegenüber, die beiden neuen Machtblöcke. Nun endet die Welt in Gmünd. Auf tschechischer Seite werden die Grenzorte entvölkert, nur České Velenice nicht. Denn hier geht die Arbeit in der Eisenbahnwerkstätte weiter, die Einwohner:innen des Orts stehen unter beispielloser Überwachung.

Und heute? Aus Todfeinden sind Brüder (und Schwestern) geworden, geeint unter dem europäischen Dach. Grenzkontrollen zwischen Österreich und Tschechien (1992 aus der zerfallenen Tschechoslowakei hervorgegangen) gibt es nicht mehr, beide Länder gehören dem Schengenraum an. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 hat sich die Situation wieder einmal grundlegend geändert.
Die Eisenbahnwerkstätte in České Velenice wurde vor wenigen Jahren geschlossen. Die riesigen Fabrikhallen stehen nun leer. Dafür hat Magna an anderer Stelle im Ort ein Werk errichtet. České Velenice hat kein sichtbares Zentrum. Das irritiert den Besucher, er hat das Gefühl, sich nur auf Nebenstraßen zu bewegen. Die Straße vor dem Bahnhof soll zu Monarchie-Zeiten eine Prachtallee gewesen sein, ­heute werben hier Nagelstudios und ähnliche Etablissements um Kundschaft (aus Österreich). Wie man hört, ist geplant, die alte Bahnverbindung zwischen Wien und Prag zu reaktivieren, schon Ende dieses Jahres. Dies könnte zu einem Aufschwung in der Gegend führen, auch ohne dass der Bahnhof wieder Gmünd zugesprochen werden müsste.

Ein ständiges Hin und Her. Bald österreichisch, bald tschechisch, dazwischen deutsch. Gestern Feinde, heute Freunde. Wer die Volten europäischer Geschichte am Beispiel dieses Bahnhofs rekapituliert, dem oder der kann schnell schwindelig werden. Da tut ein Bier gut.
Ein Bier in dem Bahnhofsrestaurant. Auch in diesem Raum hat die Geschichte ihre Spuren hinterlassen. Ohne Rücksicht auf das Jugendstil­erbe wurde hier irgendwann einmal ein Spannteppich verlegt und eine ­gemauerte Theke in die Ecke gesetzt. Die von der Decke herabhängenden Lampen stammen sichtlich aus realsozialistischer Produktion. Und die Leinwand an der Seite dient gewiss der Übertragung von Fußballspielen. Kurzum: Vieles kommt hier zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört. Das trübt den Glanz des ­Restaurants, macht es aber auch irgend­wie ehrlich, sympathisch. In diesem Ambiente schmeckt das Bier besonders gut.