Begegnung mit der GeschichteDichter Innenteil

Ulrich Ladurner über Gespenster, die er mit seinem Wien verbindet

Da ist zum Beispiel mein Bekannter aus der Werbebranche, eigentlich ein gelernter Historiker, der mangels Alternativen dazu verdammt ist, verkaufsfördernde Sprüche für Produkte wie Zahnpasta oder Cornflakes zu ersinnen.Noch am Tag seiner Ankunft in Wien machte er sich von seinem Hotel zum Heldenplatz auf, weil er eine Ahnung davon bekommen wollte, wie es gewesen sein mochte, als Hitler am 15. März 1938 zu den hier versammelten Massen sprach. Auf dem Weg dorthin fiel ihm – dem professionellen Werber und gelernten Historiker – ein Wahlplakat der FPÖ auf. Da stand zu lesen: «Mehr Mut für unser Wiener Blut». Das «Wiener Blut» wollte meinem Bekannten nicht mehr aus dem Kopf. Wenn ich ihn heute nach Wien frage, zitiert er gerne einen österreichischen Dichter mit dem Satz: «Wo man hintritt, kocht die Blutsuppe hoch!» Mehr sagt er nicht. In meinem Bekanntenkreis ist er nicht der Einzige, der immer dann, wenn ich frage: «Waren Sie schon einmal in Wien?», von einem Malheur zu berichten weiß, von etwas unangenehm Unerwartetem, von einer gespenstischen Begegnung, die sich wie ein hartnäckiger, dunkler Schatten über jede Erinnerung an den Wienbesuch legt.

Als Liebhaber und Verehrer Wiens habe ich mehrmals versucht, ihm ein anderes Bild dieser Stadt zu vermitteln. Ich schwärmte von den Kaffeehäusern, wo man Tage damit verbringen kann, ergebnislos, aber doch mit Freuden über den Sinn des Lebens nachzudenken. Ich lobte die Musikstadt in allerhöchsten Tönen, bis selbst mir die Ohren schmerzten, und ich säuselte ihm Süßes über Egon Schiele ins Ohr, der selbst düsterstes Verlangen noch vergolden könne. Es half alles nichts. Mein Bekannter ließ sich nicht von der Blutsuppe abbringen, die, wie er mir versicherte, wann immer er sich vorstelle, er gehe auf Wiener Boden, unter seinen Füßen schmatze. Das «Wiener Blut» verdrängte all das Wunderbare an Wien.

Ich freilich lasse mich nicht abhalten, von den kleineren Malheurs und großen Schrecklichkeiten und fahre nach Wien, wann immer sich mir eine Gelegenheit bietet. Warum? Weil ich dort einige Jahre gelebt habe, weil ich dort gute Freunde habe. Das ist die naheliegende Antwort. Der tiefere Grund ist, dass ich Wiens sinistrem Charme erlegen bin. Wien beschenkt mich bei jeder Reise mit einem Gefühl, das ich nicht einzuordnen weiß, doch das in meiner ansonsten recht widerstandsfähigen Seele mit Leichtigkeit einsickert und sich auf Dauer einnistet.

Das letzte Wiener Erlebnis dieser Art hatte ich in der Kaiserstraße 23, im 7. Bezirk. Ich wohnte in einem ehemaligen Kloster, das zu einem Hostel umgebaut wurde. Es ist ein empfehlenswertes Haus für alle Reisenden mit schmalem Budget. Die Zellen der Nonnen sind mit wenigen Strichen und viel Geschick zu einfachen, aber angenehmen Zimmern umgewandelt worden. Die zahllosen Gebete, die hier über viele Jahrzehnte gesprochen wurden, bilden eine feines, unsichtbares Netz, das selbst den traurigsten Besucher vor dem Fall in einen Abgrund zu beschützen vermag. Jedes Zimmer trägt den Namen eines berühmten Österreichers.

Ich schlief im «Ernst Jandl», was mich mit Stolz erfüllte. Nachts murmelte ich die wenigen Zeilen, die mir von Jandls Gedichten im Gedächtnis geblieben sind, vor mich hin. Ich fühlte mich dem großen Dichter nahe und glitt schließlich hinein in einen tiefen Schlaf. Ich träumte, dass Jandl die ganze Nacht auf meiner Bettkante saß und über einen Notizblock gebeugt mit kratzender Feder Gedichte zu Papier brachte. Als ich aufwachte, musste ich über mich lachen. Ein eitler Traum, mehr nicht. Doch dann sah ich auf der Matratze, am Fußende, eine tiefe Delle, die nicht von mir stammen konnte, sondern von etwas oder jemandem Schweren, das oder der hier längere Zeit gesessen hatte. Jandl hatte mich also doch besucht in dieser Nacht. War dieses Zimmer sein Ausweichquartier, falls es ihm einmal im Zentralfriedhof zu langweilig, zu kalt, zu eng oder zu dunkel wurde? Stand deshalb in großen Lettern «Ernst Jandl» an der Tür? Damit sich der tote Dichter nicht verlaufen konnte?

Ich ging ins Freie, um diesen Gedanken abzuschütteln. Nach wenigen hundert Metern hatte ich mich beruhigt. Dann aber öffnete sich zu meiner Rechten ein Haustor. Ein riesiger, dicker Mann wälzte sich auf die Straße wie ein schnaubendes Walross. Er war mehr rund als groß, sein Gesicht war von einem dichten, wilden Bart umrahmt, und auf seinem gewaltigen Kopf saß eine viel zu kleine, bunt leuchtende Skimütze. Der Anzug, den er trug, war fleckig und an den Taschen ausgebeult. In einer Hand hielt er eine prall gefüllte Billa-Einkaufstüte, in der anderen einen knotigen Stock. Er schnaubte und keuchte, als wäre er viele Treppen hochgestiegen. Instinktiv machte ich einen Satz nach vorne, da ich befürchtete, diese Masse Fleisch könnte umkippen und mich erdrücken. Ich beschleunigte den Schritt. Trotzdem hörte ich den Riesen hinter mir atmen. So nahe, dass ich seine feuchte Wärme auf meinem Nacken spürte. Ich bog um eine Ecke, aber er blieb mir dicht auf den Fersen. Nach einigen Minuten, in denen ich vergeblich versucht hatte, ihn abzuschütteln, entschloss ich mich, ihn zu stellen. Ich drehte mich um und blickte in das aufgequollene, haarige Gesicht des Fremden.

«Woos iis?», die Worte des Riesen schwappten mir auf einer übel riechenden Atemwelle entgegen.

Ohne nachzudenken fragte ich ihn: «Kennen Sie Ernst Jandl?»

«Ernst, wen?»

«Jandl, den Dichter.»

«Geh lassen Sie mich in Ruh mit Dichtern.»

«Aber er hat ein Zimmer, hier in der Kaiserstraße …»

«In der Kaiserstraße? Ach so, den Jandl, den kenn ich natürlich, der kommt immer nur nachts, um was zu schreiben …»

«Sie kennen ihn also?»

«Nein, ich nicht, aber das Zimmer, da habe ich mal übernachtet, und da saß er auf der Bettkante, bis ich ihn verjagt hab!» Er machte mit seinem knotigen Stock eine entsprechende Geste.

«Dichter können mir gestohlen bleiben. Und jetzt lassen Sie mich bittschön vorbei!»

Und weg war das Wiener Gespenst.

Ulrich Ladurner, 1962 in Meran/Südtirol geboren, ist Redakteur der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit», berichtet meist aus der Ferne und ist Autor mehrerer Reportagebücher. Und er erinnert sich gerne an Wien.

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