Seit fünf Jahren ist Bernhard Günther künstlerischer Leiter von Wien Modern, des landesweit bedeutendsten Festivals für zeitgenössische Musik. Und er hat nicht nur darüber einiges zu sagen.
INTERVIEW: ANDREAS FELLINGER
FOTOS: NINA STRASSER
Das Motto des diesjährigen Festivals – «Mach doch einfach, was du willst» – wirft Fragen auf. Was wird damit bezweckt bzw. worauf bezieht sich diese Aufforderung, die suggeriert, dass man eh nix ausrichten kann?
Bernhard Günther: Wenn du endlich einmal machen kannst, was du willst, ist ja das komplette Gegenteil von «eh wurscht». Die letzten eineinhalb Jahre waren eine anstrengende Lektion in Unfreiheit. Es gab monatelang mehr Maßnahmenverordnungen als Konzerte. Und gleichzeitig haben wir unglaublich viel gelernt über die Grenzen des menschlichen Irrglaubens, alles kontrollieren zu können oder zu müssen. Das Festival heuer ist so gesehen eine vollkommen entspannte, so ernst wie heiter gemeinte Einladung, in sich hineinzuhören und sich endlich wieder mehr auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu besinnen.
Wien Modern dauert den ganzen Monat November lang und lädt täglich zu mehreren Veranstaltungen ein. Wer sollte sich das alles zu Gemüte führen?
Es gibt in Wien zwar sensationell viele Fans, die jedes Mal in Dutzende Konzerte gehen, und ich freue mich auch immer, wenn sich plötzlich eine ganze Gruppe vom RSO Wien in den echoraum aufmacht oder umgekehrt. Aber ich finde es vor allem ganz entscheidend, bei einem Festival einer solchen Größenordnung wirklich Offenheit für verschiedenste Szenen innerhalb des weiten Feldes der zeitgenössischen Musik zu schaffen. «Die verschiedenen Kirchen treffen sich wieder bei Wien Modern», wie Burkhard Stangl das einmal genannt hat. Heuer gibt es beispielsweise vier Tage lang Georg Baselitz mit Beat Furrer, Olga Neuwirth, Elisabeth Harnik und dem Pariser Streichquartett Quatuor Diotima im Musikverein und sofort danach drei Tage lang «comprovise» mit einem tollen Line-up der Improvisationsszene im Italienischen Kulturinstitut, von Gerry Hemingway und Ingar Zach bis zu Martin Mallaun und Cordula Bösze. Wären das zwei separate Festivals, gäbe es da wenige chemische Reaktionen zwischen den beiden. Aber es ist beides großartige zeitgenössische Musik. Und es ist extrem gut für die Musik, wenn einen Monat lang spürbar wird, dass die vielen kleinen, mittleren und großen Nischen im Zusammenspiel ein beeindruckend großes Ganzes ergeben.
Gibt es innerhalb des Festivals auch niederschwellig zu erreichende Konzerte? Musik, die man sich für wenig Geld anhören kann?
Sowieso. Wir sind langjähriger Partner von Hunger auf Kunst und Kultur. Wir haben heuer 15 Konzerte und Installationen bei freiem Eintritt, für Jugendliche sogar noch mehr. Darunter sind echte Highlights, wie Ingrid Schmoliner im Palais Coburg, Bertl Mütter im Literaturmuseum, Peter Jakober im Palais Mollard, Winfried Ritsch im Reaktor, Nurit Stark, Miranda Cuckson, Logothetis-Abende mit dem ELAK und in der Alten Schmiede, zwei Tage der offenen Tür in zehn experimentellen Instrumentenbauwerkstätten, fünf Mini-Opern in der MUK, eine Fotoausstellung im Polnischen Institut Wien usw. Wir sind von den Luxuspreisen auf Klassikfestivals oder in Opernhäusern, aber auch bei anderen Konzerten, weit entfernt. Und bereits ab 40 Euro gibt es den Festivalpass, was 2 bis 5 Euro pro Konzert entspricht. Das müssen wir dem ökonomischen Druck im Kulturbereich immer wieder aufs Neue abringen, aber das ist uns wichtig, weil wir es so einfach wie möglich machen wollen, sich diese Musik anzuhören.
Damit kommen wir zu den vielen Kooperationspartner_innen von Wien Modern. Welche Beweggründe stehen hinter diesen Partnerschaften, die in der Vergangenheit des Festivals keinen besonderen Stellenwert hatten?
Am wichtigsten ist die Vielfalt, die sich gerade im Wiener Musikleben enorm entwickelt hat: Am Anfang des Festivals, 1988, waren das Wiener Konzerthaus und der Musikverein die einzigen Spielstätten von Wien Modern, und es war schon etwas Besonderes, dass die beiden quer über den Karlsplatz zusammengearbeitet haben. Das Programm war sehr klassisch, es gab ganze sechs Komponisten aus Wien, von denen aber die meisten bereits tot waren, es gab keine einzige Komponistin, niemanden aus den anderen Bundesländern, keinerlei innovative Formate, Experimente, Installationen, Improvisation, keine Vermittlung, keine Nachwuchsprojekte, nichts für junges Publikum und null Uraufführungen. Das war damals trotzdem in Wien etwas Sensationelles, aber heute wäre so etwas komplett undenkbar. Wir haben heuer 38 Spielstätten in elf Wiener Gemeindebezirken, 56 Produktionen, davon diesmal acht Musiktheater-Uraufführungsproduktionen, 20 Begleitveranstaltungen, wie Gespräche und die Bar Modern, 60 Komponist_innen und rund 80 Uraufführungen. Darüber hinaus ist das Kooperieren aber auch absolut notwendig, um größere Produktionen überhaupt zu ermöglichen. Beispielsweise für eine Opernproduktion wie die Poppaea heuer im Odeon wird wochenlang geprobt und teilweise jahrelang gearbeitet. Wenn man so etwas auch nur halbwegs mit dem Ziel von Fair Pay macht, kommen dabei ganz andere Summen heraus, als ein rein zeitgenössischer Veranstalter allein stemmen kann. Dazu braucht es Koproduktionspartner, die sich in mehreren Ländern mit vereinten Kräften um Projektfördermittel bemühen.
Ein Spezifikum Ihrer Intendanz scheint mir die Aufteilung des Festivals auf viele Orte zu sein. Mögen Sie uns ein paar davon nennen?
Worauf ich mich heuer in räumlicher Hinsicht besonders freue, sind beispielsweise die vielen kleinen Ateliers am Brunnenmarkt, beiderseits des Hernalser Gürtels, im Prater, in der Expositur der Angewandten, im Arsenal etc. Unsere beiden Abende im Studio Molière sind leider historisch, weil dieser wunderbare Ort danach nur noch intern für Unterrichtszwecke genutzt werden soll. Zu den großen Entdeckungen für mich heuer gehören das Italienische Kulturinstitut, das Polnische Institut Wien und die ganz neuen SOHO-Studios im Sandleitenhof. Man kann mit der Geigerin Nurit Stark einen kostenlosen Spaziergang von der Votivkirche über den Arkadenhof der Hauptuni in den Festsaal des Billrothhauses machen, ein wundervolles Architekturdenkmal von 1893, wo man glaubt, dass jeden Moment Brahms um die Ecke biegt. Und am 28. November steht unser größtes Raumprojekt bevor, die ceremony II von Georg Friedrich Haas: Vier Stunden lang wird die Gemäldegalerie im Kunsthistorischen Museum zu einem dreidimensionalen, frei begehbaren Klangbad, 70 Musiker_innen spielen auf Instrumenten aus sechs Jahrhunderten eine mikrotonale Komposition, die einen ungeheuren Sog entfaltet.
Wie nehmen Sie die politische Situation in Wien wahr? Ich frage auch im Hinblick darauf, dass Sie sich von Beginn an in der Initiative «Mit der Stadt reden» engagiert haben, obwohl Sie sich keine budgetären Gewinne davon versprochen haben können.
Die Kulturpolitik, vor allem auf Ebene der Stadt, ist nach Jahrzehnten einschläfernder Sparpolitik endlich aufgewacht. Das mag auch damit zu tun haben, dass in solchen Initiativen wie «Mit der Stadt reden» die verschiedenen Szenen selbst aufgewacht sind und gemerkt haben, dass sie sich zusammenraufen und ein klein wenig an das große Ganze denken müssen. Der Mangel an nichtkommerziellen Räumen für Musik, die budgetäre Unmöglichkeit von Fair Pay in weiten Bereichen, das Prekariat der freien Szene, die immer noch viel zu geringe Sichtbarkeit von Frauen in vielen Veranstaltungsprogrammen und ganz allgemein die Situation eines Musiksektors, der zu sehr dem Markt überlassen wurde, woraufhin viele »nichtwirtschaftlichen» Freiräume für Experiment und Innovation systematisch verschwunden sind – das sind immer dringendere Themen, bei denen aber ganz allmählich etwas in Bewegung zu geraten scheint. Die Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler hat zwei Symposien zu Fair Pay und Räumen initiiert, in denen erstmals seit gefühlten Ewigkeiten die Politik der Szene zugehört hat, wo die Probleme liegen. Da ist noch extrem viel zu tun, ganz abgesehen davon, dass noch niemand weiß, wie die Langzeitfolgen der Corona-Pandemie im Kulturbereich sein werden. Aber ich bin schon froh, dass dieser seit den 1990er-Jahren perfektionierte defensive Reflex der Kulturpolitik gegenüber der Kultur nicht mehr so alternativlos ist. Dieses zähe Verwalten ewig schrumpfender Töpfe mit Mantras, wie «Geht ned», «Wir haben so viel Altes zu bewahren, da geht sich mehr Neues nicht aus» und «Macht’s halt weniger!», ist heute nicht mehr so cool wie noch vor fünf Jahren. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.