«Bei uns ist die Bildungsvererbung besonders hoch»tun & lassen

Illustration: © Kati Szilágyi

Erstakademiker:innen in der Medienwelt: Wer aus Haushalten ohne Hochschulabschluss stammt, hat weniger Chancen, selber einen zu machen. Zwei Journalist:innen erzählen von ihrem Bildungsweg.

Ein smaragdgrüner Fluss umrandet das steirische Dorf Altenmarkt bei St. Gallen. Wälder und Wiesen, soweit das Auge reicht. Das Highlight des Dorfs ist das Schwimmbad mit einer quietschroten Wasserrutsche. Die Rutsche sei eigentlich zu flach und der Wasserdruck zu gering, um hier wirklich Spaß zu haben. Der Journalist Lukas Matzinger, 1990 geboren, hat seine Kindheit und Jugend in dem Ort verbracht. «Es war fantastisch und wunderschön», erinnert er sich. Das Dorf lebt von einer riesen Fabrik, wo fast so viele Menschen arbeiten, wie in dem Dorf wohnen. So auch Matzingers Vater. «Der Papa hat da vor 100.000 Jahren angefangen zu arbeiten, als das aufgebaut worden ist, und ist dann halt ewig geblieben. Am Ende war er dann Abteilungsleiter von der Aluminium-Gießerei.» Lukas ­Matzinger mag es, mit Zahlen zu übertreiben und er mag seinen Herkunftsort. Das hört man ihm an. In der Volksschule galt er als hochbegabt. Danach besuchte er das Stiftsgymnasium Admont. Er konnte die Matura machen und ein Studium auswählen. Er und seine drei Geschwister bilden in der Familie die erste Generation, in der das möglich ist.
Sein Vater hatte diese Möglichkeit nicht. Er ist im Krieg auf die Welt gekommen. «Das war eine komplett andere Zeit, die haben überhaupt nichts gehabt. Es war schon ein Wahnsinn, dass er in die Hauptschule gegangen ist. Wenn er ein wenig später zur Welt gekommen wäre, hätte er einen anderen Bildungsweg gemacht», da ist sich ­Matzinger sicher.

Wenig Geld, niedrige Bildung

Im Herkunftsort von Maria Todorović gibt es weniger Bäume, dafür mehr Menschen. Wiesen und Wälder sucht man hier vergeblich, sie hat die meiste Zeit in einem Park neben einer befahrenen Hauptstraße oder in der Spielecke neben ihrem Bett verbracht. Die 21-jährige wohnt seit ihrer Kindheit in einer kleinen Wohnung im 15. Bezirk, früher hat sie sich hier ein Zimmer mit ihrer Schwester geteilt. Die Sticker-Reste an der Tür, die sie erfolglos abgekratzt hat, erinnern an damals.
Ihre Familie ist in den 60er-Jahren aus Serbien nach Österreich gekommen. Ihr Vater war als Bürokaufmann tätig, später in einer leitenden Position. Doch als er den Job verlor, bekam er nicht die Chance, eine ähnliche Tätigkeit auszuführen. Nicht mit seiner Ausbildung: «Mein Vater musste mit 15 arbeiten gehen, obwohl ihm seine Lehrerinnen gesagt haben, dass er auf’s Gymnasium gehen soll.» Seine Familie konnte sich eine akademische Laufbahn für ihn nicht leisten. Diese sollte nun die Tochter einschlagen. Sie sollte studieren, am besten etwas Fixes. Sie sollte Lehrerin werden.
Todorović spürt früh, dass ihre Eltern weniger Geld haben als andere. Die hohen Beträge für Skikurse verpassen der damals Zehnjährigen ein ungutes Gefühl im Magen. Sie weiß, dass sich ihre Familie das Geld mühsam zusammenkratzen muss. Einmal kommt ihre Mutter wütend von einem Elternsprechtag nach Hause. «Ich hatte schlechte Noten in Mathe», erzählt sie. Die Lehrerin hatte der Mutter vorgeworfen, dass sie ihrem Kind keine Nachhilfe finanziert. «Man muss bedenken, dass Nachhilfe damals für eine Stunde zehn bis 15 Euro kostete. Das war nicht drin finanziell, das ging nicht.»
Laut Statistik Austria haben nur 6,7 Prozent der Personen, bei denen die Eltern höchstens Pflichtschule haben, einen Hochschulabschluss. Im Vergleich dazu absolvieren 57,3 Prozent aus jenen Haushalten, in denen entweder Mutter oder Vater über einen Hochschulabschluss verfügen, einen ähnlichen Abschluss.
Die Bildungspsychologin Christiane Spiel erklärt so: «Wichtige Faktoren für den Bildungsweg sind der Bildungsstand der Eltern, deren Beruf, Lehrpersonen, die das Interesse für bestimmte Inhalte wecken, die Interessen von Freunden und die eigenen Interessen und Begabungen. Deren Förderung hängt jedoch wieder mit dem Umfeld zusammen, in dem der Mensch aufwächst.»
Bildungsstand, finanzielle Situation und Migrationsbiografie hängen laut Spiel zumeist miteinander zusammen und sind für das Kind entweder vorteilhaft oder eben benachteiligend. Im internationalen Vergleich schneidet Österreich laut der Expertin schlecht ab: «Bei uns ist die Bildungsvererbung besonders hoch.» Das liege an dem geringen Ausbau der Kindergärten, der geringen Anzahl an Ganztagesschulen und dem stark gegliederten Schulsystem – nur die Volksschule ist in Österreich eine Gesamtschule.

Mediale Repräsentation

Maria Todorović hat ihre Berufspraktischen Tage beim Standard gemacht. Ein folierter Artikel der Tageszeitung hängt über ihrem Holzschreibtisch, den sie mit ihrer Schwester teilen muss. Sie kann nie richtig darauf arbeiten, da er gebraucht und uneben ist. Sie träumt davon, Journalistin zu sein. Bei Familientreffen hört sie Sätze wie: «Leute wie wir haben keinen Platz dort.» Dazu sagt sie: «Sie schauen keine Medien, sie haben das Gefühl, sie würden da nicht hineinpassen.» Kein Wunder, sie sind in den Medien kaum repräsentiert. Auch das erschwert ihr den Einstieg in das Journalismus-Studium, für das schon bei der Aufnahme ein breites Medienwissen vorausgesetzt wird.
Ihre Schwester hat eine Lehre zur Kosmetikerin gemacht. «Es muss nicht jeder studieren. Lehrberufe sind sehr wichtig. Nur leider verdient meine Schwester wenig. Zu wenig, um sich trotz Vollzeitjob eine eigene Wohnung zu leisten», moniert Todorović.
Dass Bildung ein Weg aus der Armut sein kann, meint auch die Bildungsexpertin Christiane Spiel: «Höhere Bildung geht einher mit höherem Einkommen, besserer Gesundheit, höherer Lebenserwartung, besserer sozialer Situation. Auch dem Staat bringen Investitionen in Bildung mehr Geld. Denn höher gebildete Personen zahlen, da sie mehr Geld verdienen, auch höhere Steuern. Dieses Geld kann dann in Maßnahmen zum sozialen Ausgleich investiert werden.»
Lukas Matzinger sitzt im Besprechungszimmer der Wiener Wochenzeitung Falter. Hinter ihm reihen sich unzählige Cover aneinander. Er hat seinen Platz in der Medienwelt gefunden und ist zum Ressortleiter Stadtleben aufgestiegen. Er durfte für seine Reportagen wichtige Preise entgegennehmen. Damit punktet er vor allem bei seinen Medienkolleg:innen. Die Leute würden sich in seinem Heimatdorf davon nicht sonderlich beeindrucken lassen. Dort «zählt eher was, wenn jemand beim Ziehharmonika-Wettbewerb eine gute Platzierung macht oder beim Feuerwehr-Wettbewerb. Das macht die Leute wesentlich stolzer», sagt er. Ihn störe das aber nicht: «Mir gefällt es, dass ich daheim ins Wirtshaus gehen kann und die Themen sind einfach andere als in der Bubble hier in Wien.»
Maria Todorović entschied sich schließlich, ihr Lehramtsstudium abzubrechen und studiert nun Journalismus an der FH der WKW. Ihr Vater ist nicht begeistert. «Ich muss bis heute noch mit ihm kämpfen, dass Journalismus machbar ist und dass ich nicht Taxifahrerin werde.» Neben dem Studium jobbt sie als Kellnerin, um sich die Studiengebühren zu finanzieren.
Nach den ersten Lehrveranstaltungen war sie erschüttert über die fehlende Diversität. «Ich dachte mir, ok, das ist alles? Und wo passe ich da jetzt rein?», erinnert sie sich. Unter den Lehrenden hat kaum jemand Migrationsbiografie. Zudem bremst sie immer noch das fehlende Geld. Sie würde gerne im Ausland studieren, wenn es nicht so teuer wäre.
Anfangs war es für Matzinger ein komisches Gefühl, am Tisch mit erfahrenen Feuilletonist:innen zu sitzen. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein Name fällt, der den Kolleg:innen ein Begriff ist, ihm aber nichts sagt. Erstaunten Reaktionen darauf tritt er aber selbstbewusst entgegen. «Manchmal habe ich überhaupt keine Ahnung in den Sitzungen. Aber ich glaube, ich bin zu selbstbewusst, dass ich das als Manko nehme. Ich denke dann, ich weiß andere Sachen. Ich weiß, wie man Eisstock schießt oder wie man im Fasching eine Nonstop Bar am besten angeht», scherzt er.
Die Eltern einiger ihrer Mitstudierenden arbeiten in der Medienbranche. «Viele vergeben Praktika nicht nach Können, sondern eher jemandem, den sie kennen oder deren Kindern. Natürlich musst du gut sein, aber ich glaube, du musst auch gute Kontakte haben. Das fehlt mir», sagt Todorović.
Maria Todorović und Lukas Matzinger sind Teil einer ersten Generation, in der auf den ersten Blick alle dieselben Möglichkeiten haben. Bei genauerem Hinschauen sieht man, dass es sehr wohl noch unterschiedliche Startvoraussetzungen gibt. Dabei sind die Perspektiven derer, die nicht den einfachsten Weg haben, besonders wichtig. Für Christiane Spiel können «nur so alle Bevölkerungsschichten gehört werden und sich einbringen».