«Beidarei» auf Band Nr. 2vorstadt

Der Wörtersammler aus dem Netta- und Nixiland

Netta (= nur) und nixi (= nichts): Am Gebrauch dieser beiden Wörter erkenne man «einen Oberösterreicher, eine Oberösterreicherin auf hundert Meter», sagt Ernst Stöckl. In keinem anderen Bundesland sind sie gebräuchlich. Wörter wie diese standen am Anfang seiner Obsession. Es ist eine Besessenheit, die uns Früchte hinterlässt. Die erste ist ein 1000-seitiges Buch mit dem Titel «Schärdinger Wörterbuch der Mundart und Umgangssprache. 1. Teil, A – D». Robert Sommer schmökerte darin und lud den Autor zu einem Gespräch.

Foto: Mario Lang

Er schreibt jeden Tag fünf Stunden an der Fortsetzung des Wörterbuchs. Der gesellige Ex-Sozialarbeiter und Neopensionist, ein Wiener mit innviertlerischem Migrationshintergrund, ist frei von der Sorge, wie die Rentnertage selbstbestimmt auszufüllen seien. Das Gesamtwerk werde 35.000 Stichwörter umfassen, sagt Ernst Stöckl. Dafür waren ursprünglich fünf Bände konzipiert. «Ich fürchte, es wird auch einen sechsten geben müssen», schmunzelt der Wörtersammler. Am Tag unseres Gesprächs war das Stichwort «Fliegl» (Flügel) in Arbeit. An Schärding vorbei wird noch viel Inn in die Donau fließen, bevor er bei den Stichwörtern «Zwoifeleitn» und «zwuzln» angelangt ist.

Warum fünf- bis sechstausend Seiten, wenn andere Autor_innen regionalsprachlicher Wörterbücher mit 300 oder 600 Seiten auskommen, frage ich Ernst Stöckl. «Ich kann keine halben Sachen machen», kokettiert er mit seiner Besessenheit. Dann führt er zwei Gründe an, die für die immense Dimension seines «Alterswerks» verantwortlich sind.

Der erste Grund: Stöckls Anspruch lautet, dass im Prinzip alle Wörter, die im Bezirk Schärding in Mundart und in Umgangssprache gesprochen werden, in diesem Lexikon Platz haben müssen – selbst jene Wörter werden aufgenommen, die sich in der Aussprache gar nicht von der Schriftsprache unterscheiden, die aber im Alltag sehr präsent sind. Dazu zählen Wörter wie Fisch, Sau oder dick. Ausgeschlossen werden Fremdwörter, die dem Volksmund nicht über die Lippen kommen; ich fürchte, Wörter wie Revolution oder Anarchismus gehören in diese Kategorie.

Der zweite Grund: Jedes der Mundartwörter sieht sich eingebettet in zwei, drei oder vier Mundartsätzen – «Sätzen, die wir schon so oft ausgesprochen haben, die täglich fallen, die uns auf der Zunge liegen», erläutert der Autor in der Einleitung. Es sind nichtssagende oder gewichtige Sätze, grausame und zärtliche – schon beim Durchlesen des ersten Bandes kommt das Gefühl auf, man sei irgendwo zwischen Eggersham und Eggerding in ein Bierzelt geraten und könne aufgrund einer ungewohnten Fähigkeit jedes der zweihundert Gespräche, die da über die Bierzelttische geschrien werden, einzeln wahrnehmen und dadurch erkennen, wie die Innviertler_innen ticken, wie es um das Geschlechterverhältnis bestellt ist und welche rettende Ideen die aktuelle Innviertler Alltagsphilosophie anbietet. Und auch erkennen, vor w e m und w a s sich das Volk gerade retten muss: vor dem Risiko, dass es «heint noucht bis af sim-, ouchthundat meta» herabschneien werde, oder davor, das die ganze «vawountschouft» zum Muttertag auftaucht. Oder auch davor, dass der Dialekt ausstirbt?

«Es ist heute nicht mehr so, dass der Lehrer den Schüler mit dem Imperativ ‹red‘ g’scheit!› zurechtweist, wenn dieser seine bäuerliche Mundart verwendet. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer sind heute aufgeschlossen und akzeptieren, dass es Vorteile hat, mehrsprachlich zu sein, das heißt sich in Schriftsprache und Dialekt ausdrücken zu können», ist Ernst Stöckl optimistisch. Er registriere eine Renaissance der regionalen Mundarten, sehe aber auch gelassen die Metamorphosen unserer Alltagssprache; dass jährlich Wörter verschwinden, dafür neue entstehen, sei ganz natürlich. So habe er durch seine «Feldforschung» erfahren, dass selbst alte Menschen mit dem Wort Umurkn – für Gurke – nichts mehr anfangen können. Je weiter von der Stadt Schärding entfernt, desto später sterben die ganz alten Begriffe aus; in den abgeschiedenen Flecken im Kobernaußer Wald halten sie sich am längsten. Kein Schärdinger, keine Schärdingerin geht mehr ins «Hoiz», wenn er/sie sich dem Wald zuwendet, und ob man in der Stadt noch weiß, was «afmandln» oder «afglein» oder «Beidarei» oder «Boucht» heißt, darf bezweifelt werden.

So eine Arbeit wird nie fertig

Stöckls Akribie und sein Vollständigkeitsanspruch (relativiert durch ein Goethe-Bonmot, das er an die Spitze des Vorworts stellte: «So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muss sie für fertig erklären …») haben ihm, dem Laien, auch akademische Anerkennung gebracht. Mit Professor Scheuringer von der Uni Wien und Mag. Gaisbauer vom Stifter-Haus in Linz haben ihm zwei Profis unter die Arme gegriffen.

Hilfe brauchte er vor allem gegenüber dem großen Problem der Lesbarkeit der Mundart. «So flüssig wir Mundart sprechen können, so sperrig scheint uns ein geschriebener Dialektsatz», meint Ernst Stöckl. Es bedürfe gewisser Einübung, um diese Sätze möglichst rasch, fehlerfrei, sinnhaftig lesen zu können. Der Autor suchte sich aus den leider nicht standardisierten Lautschriftzeichen einige aus, um die Aussprache der Mundart einigermaßen lesefreundlich zu Papier zu bringen. Wenn in einem Wort bestimmte Konsonanten kaum ausgesprochen, oft nur abgehaucht oder fast verschluckt werden, sind sie durch Hochstellungen erkenntlich gemacht.

Bleibt nur noch, Ihre bewundernswerte Neugier zu befriedigen; der Boucht ist der Bart, die Beidarei ist das lästige Wartenmüssen, afglein heißt auftauen, und wer afmandlt, stellt Getreidegarben zum Trocknen auf.