«Beim Fenster raus»vorstadt

Lokalmatadorin

Sylvia Schlagintweit erinnert die Seestadt an unbeschwerte Kindheits-tage – out of Steyr. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)

An der Seestadt Apotheke kommt hier keine_r vorbei, sie ist quasi im ersten Haus am Platz eingerichtet. Und das ist wohlverdient. Denn Sylvia Schlagintweit hat mit ihrem Mann Wilhelm (siehe Lokalmatador Nr. 211) in die Erweiterung der Stadt vertraut, da sagten sich auf dem ehemaligen Flugfeld Aspern noch die Hasen «gute Nacht», während die Unkenrufe aus der Stadt sehr leise waren.
Vormittags erinnert das Platzl vor der Apotheke an einen mediterranen Badeort. Der Schritt der Seestädter_innen wirkt leicht temporeduziert. Ab und zu surrt ein E-Bus der Wiener Linien vorbei. Abgase, Autolärm? Fehlanzeige. Auch im Café vis-à-vis überwiegt die Unaufgeregtheit. Zeit für ein Plauscherl.
Sylvia Schlagintweit sieht die Apotheke in der Seestadt nicht als reine Ausgabe-Stelle von Medikamenten, sondern auch als «einen Ort der Begegnung und der Kulturvermittlung». Solche Angebote gibt es hier, am nordöstlichen Zipfel von Wien, nicht allzu viele.

Freiraum.

Die Stadt am Rand der Stadt ist der gebürtigen Oberösterreicherin nicht fremd. Sie ist als jüngstes von drei Kindern in Münichholz aufgewachsen. Die alte Arbeitersiedlung ist heute Teil der Stadt Steyr, eine Art Seestadt im Kleinen. Nach Münichholz fährt keine U-Bahn, dafür ein Bus. Der benötigt eine Viertelstunde vom Stadtkern bis zur dislozierten Siedlung, die am westlichen Ufer der Enns errichtet wurde.
«Wir waren immer draußen», erinnert sich Sylvia Schlagintweit an bewegte Kindheitstage in den 1970er-Jahren. Die Wohnung mit 60 Quadratmeter erwies sich für Vater, Mutter, ältere Schwester, älteren Bruder und sie als nicht unbedingt zu groß dimensioniert. «Doch wir sind oft beim Fenster raus. Vor dem Haus war so viel Freiraum.»
Stadtrandwildnis statt Betonwüste, unbeschwerter Auslauf für Kinder statt Durchzugsverkehr-Gefahren, Ruhe statt Getose. Einzig die schwarzen Pfeile zum Luftschutzkeller störten das Idyll ihrer Kindheit, sie erinnerten an die dunkle Zeit des NS-Terrors und des Weltkriegs: Erst wurden in Steyr Waffen für den «Endsieg» produziert, am Ende regnete es amerikanische Bomben vom Himmel.

Denkraum.

Nach der Matura geht Sylvia Schlagintweit für ein Jahr als Au-Pair nach Paris, um das Flair einer Weltstadt zu erleben und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. An der Universität Wien inskribiert sie wenig später die Fächer Französisch und Ethnologie. Das war Mitte der 1980er-Jahre, als man in Wien – deutlich zeitversetzt – begann, wieder die Fenster zur Welt zu öffnen.
«Meine erste Forschungsreise führte mich nach Madagaskar», erzählt die bis heute weltoffene Geschäftsfrau. Es sollte ihre letzte sein. Die Lehre von alten weißen Männern, die in der Vergangenheit lebten, erschien ihr überholt.
Mit 28 lernt sie ihren Mann kennen, einen Steirer, der in Wien zuerst in einer Apotheke in Hietzing arbeitet, ehe er sich 2002 auf das Abenteuer Aspern einlässt. « Im alten Ortskern haben wir einen modernen Betrieb eröffnet», erzählt die Frau des Apothekers. Der Neubau wurde von der Architekturszene hymnisch gelobt, jedoch von der ortsansässigen Bevölkerung kritisch begrüßt.
Es ist dem kommunikativen Geschick von Sylvia Schlagintweit zu verdanken, dass sich die Startschwierigkeiten bald in Wohlgefallen auflösten. Mit ihrer Initiative Denkraum Donaustadt hat sie zudem neue Begegnungszonen geschaffen.

Kulturraum.

Gegen 16 Uhr beginnt die Seestadt deutlich intensiver zu pulsieren. Die in der Innenstadt Arbeitenden kehren mit der U2 nach Aspern heim, zudem haben die Auszubildenden Zeit zur freien Verfügung. Auch in ihrer neuen Apotheke ist jetzt deutlich mehr los.
Das war am Anfang anders, betont deren Miteigentümerin: «Als wir eröffnet haben, war es schon mühsam. Da sind vordergründig Bauarbeiter zu uns gekommen, die einen Verband oder ein Pflaster benötigt haben.»
Eine Besonderheit der Seestadt Apotheke ist heute die Altersstruktur der Kundschaft. Eine firmeninterne Studie zeigt: «Mehr als sechzig Prozent unserer Kund_innen sind zwischen null und 18 Jahre alt.» Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich in der Seestadt vor allem Familien mit Kindern ansiedeln wollen.
Für ihr Stammklientel hat Sylvia Schlagintweit den Club der kleinen Löwen ins Leben gerufen: ein Freizeitprogramm für Kinder und Familien – mit Konzerten, Theateraufführungen und anderen Veranstaltungen, die die Kreativität fördern sollen. Zudem lädt sie Kinder aus der nahe gelegenen Schule und dem Kindergarten zu Workshops und Führungen durch die Apotheke ein.
Bei Lesungen für Erwachsene kooperiert die Netzwerkerin indes mit der Buchhandlung «Seeseiten». Und wenn dann der letzte Gast gegangen ist, fährt auch sie nach Hause, Richtung Zentrum. «Ich mag Altbauwohnungen», gibt Sylvia Schlagintweit offen zu. «Und davon besitzt der vierte Bezirk nun einmal mehr als die Donaustadt.»

Mehr Infos: www.denkraumdonaustadt.at

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