Bellevue für alle!tun & lassen

Wie Reinhard Seiß uns half, den Begriff Sozialmissbrauch neu zu denken

Ohne aufrechte Beamte, die bereit waren, offen zu sprechen, wiewohl sie meistens anonym bleiben wollten, wären ihm viele Informationen verschlossen geblieben, sagt Reinhard Seiß. Der Raumplaner hat mit seinem Buch Wer baut Wien? Furore gemacht. Das Thema: Die Ausschaltung der Stadtplanung im Interesse einer Kumpanei von Kommunalpolitik und Baukapital. Im Augustingespräch mit Reinhard Seiß ging es vor allem um die Frage, was mit öffentlichen Geldern passiert, die eigentlich dazu dienen sollten, auch Einkommensschwachen gute Wohnqualität zu erschließen.Bellevue für alle! Die Losung erscheint nur im ersten Moment revolutionär. Die Sozialdemokratie in Wien war in den 70er und 80er Jahren noch ausreichend ihrer Tradition verpflichtet, sodass man mit der Idee, die schönsten Plätze der Stadt (also vor allem die mit der schönsten Aussicht) vor Privatisierungen zu bewahren, noch nicht in die kommunistische oder sozialromantische Ecke gestellt wurde. Im Gegenteil, Architektur und Stadtplanung setzten bei Gelegenheit die Losung um: Die gemeinschaftlichen Schwimmbäder auf den Dächern mancher sozialer Wohnanlagen waren ein demonstrativer Widerspruch zum anderswo spürbaren Trend, den Genuss von Panorama zum Privileg der Meistbietenden zu machen.

Bellevue für die Topmanager! Ist das die neue Losung? Reinhard Seiß aufregendes Buch über die neuen Freiheiten, die die Politik den Bauträgern und Investoren gewährt, ließe sich in diese Richtung deuten. Konträr zu Harry Glücks gemeinschaftlichen Dachparadiesen im Wohnpark Alt Erlaa (vor 30 Jahren fertig gestellt!) sind die Dachzonen der drei Wohntürme der Sozialbau AG an der Wagramer Straße für die Bewohner nicht einmal zugänglich. Mit 45.000 Wohnungen ist die zum SPÖ-Firmennetzwerk zählende Sozialbau AG der größte private Hausherr Österreichs.

Wie alle anderen Wohntürme dieser Neubauzone sind auch die Sozialbau-Wolkenkratzer mit öffentlichen Geldern gefördert. Jemand, der den Begriff Sozialmissbrauch bisher an die Erschwindelung von Sozialhilfegeldern durch so genannte Sozialschmarotzer koppelte, lernt spätestens mit der Lektüre des Buches von Reinhard Seiß, dass der Begriff erst auf einer viel höheren Ebene von Politik und Wirtschaft seine Legitimität erhält. Die Sozialbau AG, so ist bei Seiß nachzulesen, hat ihre Türme nach sozialen Kriterien unterteilt. Die unteren 14 Etagen, die im Schatten des bewohnten Lärmschutzbaus entlang der Wagramer Straße stehen, enthalten Mietwohnungen für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen. Vom 15. bis zum 19. Stock wo die Aussicht schon weiter reicht als bis zum Nachbarhaus, der nahe Autoverkehr aber noch hörbar ist befinden sich geförderte Eigentumswohnungen für die Wiener Mittelschicht. Daran schließen drei exklusive, frei finanzierte Wohnetagen für Begüterte an, und ganz zuoberst thront auf allen drei Türmen ein Penthouse mit großzügiger Dachterrasse.

Die Vorstellung, dass die Unterschicht, in dem Fall die Bewohner der 14-stöckigen Fundamente der Sozialbau-Türme, in einem Abschnitt wohnen, der den unerreichbaren Penthousebesitzern quasi als Podest dient, die Vorstellung, dass die BewohnerInnen dieses Podestes nie auch nur einen Moment lang das Privileg eines Blickes vom Dach teilen werden, wird bei LeserInnen mit intaktem Gerechtigkeitsempfinden die Grausbirn aufsteigen lassen. Worauf wir schon durch die Lektüre aufmerksam gemacht worden waren, reifte im Augustin-Gespräch mit dem Autor zum Begriff: Vor dem Hintergrund des Defizits an leistbaren und zugleich qualitätvollen Wohnungen erscheint es pervers, mit öffentlichen Geldern, die dem sozialen Wohnbau gewidmet sind, exklusive Lagen für die Superreichen zu generieren.

Exkurs: Kahlenberg

Ein kleiner Exkurs weg von den Beispielen Reinhard Seiß, aber doch auch zum Thema Bellevue für alle. Als unvergleichlichster aller unvergleichlichen Blicke auf Wien gilt jener vom Kahlenberg. Die allerschönste Stelle Wiens kann nur dem Volk gehören, das galt schon unterm Kaiser. Wie an den Gipfeln der Hochhäuser ist auch zuoberst am Kahlenberg abzulesen, dass sich die Zeiten geändert haben. Den besten Rundblick muss man sich jetzt leisten können. Am 1. Juni wird das Austria Trend Hotel Kahlenberg“, betrieben vom Österreichischen Verkehrsbüro, eröffnet. Hoch über Wien, auf 484 Meter Seehöhe gelegen, beherbergt der Neubau 20 Suiten und 30 Serviced Appartements“. De facto handelt es sich dabei um Luxus-Eigentumswohnungen, obwohl die Baubewilligung nur für ein Hotel erteilt worden war. Die Grünen haben dagegen gehörig opponiert, der Bevölkerung war die Privatisierung des berühmtesten Wiener Aussichtspunktes im Großen und Ganzen wurscht die Erfahrung des Ausschlusses von den privilegierten Plätzen der Landschaft und der Stadt ist längst verinnerlicht.

Anhand von Neubauprojekten wie Donau City, Lasallestraße, Wagramer Straße, Millenium Tower, Wien Mitte, Gasometer, Wienerberg City und Monte Laa versucht Reinhard Seiß einen Paradigmenwechsel erkennbar zu machen, der durch die Pervertierung stadtplanerischer Grundsätze ausgedrückt werden könnte: Aus dem an sich schon problematischen Prinzip Sie wünschen, wir widmen wurde laut Seiß zuletzt immer öfter Sie bauen, wir widmen. Die Gschamsterdiener-Politik gegenüber Investoren illustriert Seiß etwa am Beispiel des Millenium Towers am Handelskai.

Die Flächenwidmung ließ hier immerhin ein Hochhaus mit 108 Metern zu. Dem Bauunternehmer Georg Stumpf wurde jedoch ein Projekt mit 140 Metern genehmigt. Die Shoppingfläche wurde in einer Vereinbarung zwischen Stadt und Stumpf auf 10.000 Quadratmeter beschränkt, um nicht übermäßig Kaufkraft aus den bestehenden Einkaufsstraßen des 20. Bezirks abzuziehen. Stumpf errichtete dennoch eine 30.000 Quadratmeter große Shopping Mall, und aus den 140 Metern Gebäudehöhe wurde 202 Meter was nachträglich von der Stadt Wien durch Abänderung der rechtskräftigen Pläne legalisiert wurde. Das Rathaus verzichtete auch darauf, den Investor wie in anderen Großstädten üblich zu einer Abgeltung der enormen Wertsteigerung seines Grundstücks infolge öffentlicher Vorleistungen zu bewegen. Diese Vorleistungen hätten nicht nur in der für Stumpf maßgeschneiderten Änderung der Flächenwidmung bestanden, sondern auch in dem Geschenk der U6- und S-Bahnstation Handelskai, die direkt am Fuße des Wolkenkratzers geschaffen wurde: Der Bauträger musste sich mit keinem Cent an der Errichtung des Stationsgebäudes beteiligen. Fazit: Ein Spekulant kriegt einen Gratisbahnhof zweier Hochleistungs-Öffis ins Haus geliefert, während ein Sozialhilfeempfänger immer noch den Volltarif zahlen muss; auch mit schiefen Vergleichen lässt sich die soziale Schieflage verdeutlichen.

Angst vor der Debatte

Reinhard Seiß ist ein Raumplaner, dem man die Adjektiva frei und kritisch zugestehen kann, ausgestattet mit einer analytischen Intelligenz und einer beachtlichen Portion Fach- und Sachkompetenz … Ganz angetan ist Österreichs scharfsinnigster Architekturpublizist, Univ.Prof. Friedrich Achleitner, von dem 37-jährigen gebürtigen Oberösterreicher, dessen Buch derzeit in manchen Rathausabteilungen häufiger zitiert wird als die Reden des Bürgermeisters. Seiß kaum zu widerlegende Diagnose, so Achleitner weiter, sei, dass Stadtplanung und Baupolitik im neoliberalen Glanz von Tüchtigkeit und Unternehmergeist immer mehr von einseitigen Wirtschaftsinteressen unter Druck gesetzt würden oder sich unter Druck setzen ließen, sodass auch vernünftige Planungsansätze sich in ihr Gegenteil verwandeln könnten. Man sollte zum Wohl der Stadt die Diskussion mit Seiß aufnehmen, schlägt Achleitner vor.

Die Partei, die die Regierungsgewalt über die Stadt Wien langfristig abonniert zu haben scheint und deren Herrschaftsstil durch die Selbstverständlichkeit ihrer Dominanz immer mehr vatikanische oder monarchistische Züge annimmt, zeigt aber seit längerem schon ihren Spundus vor einer solchen Diskussion. So sei er schon mehrmals als Redner von Fachveranstaltungen auf politische Intervention hin ausgeladen oder als Parteigänger einer der Wiener Oppositionsfraktionen abgestempelt worden, verriet uns Reinhard Seiß.

Zum Wiener Planungsstadtrat wird es Reinhard Seiß in diesem Leben wohl nicht mehr bringen, obwohl er der Kompetenz jener StadtplanungsexpertInnen im Rathaus Respekt zollt, die mit manch übergeordneten Konzepten intelligente und auch sozialdemokratische Antworten auf die durch den Fall des Eisernen Vorhangs entstandenen Herausforderungen für die Hauptstadt vorlegten. Und genau dies ist es, was Seiß Untersuchung so brisant macht: Denn nach diesen Konzepten hätte das Rathaus das alles nicht genehmigen dürfen: den Millenium Tower, die Wienerberg City, Monte Laa, etliche Einkaufszentren und vieles andere.

Apropos Stronach

Um das Seiß-Bild abzurunden: Auch im schwarzen Niederösterreich wird der Wer baut Wien?-Autor nicht so leicht eine amtliche Raumplanungs-Karriere machen. Der dortigen ÖVP ist die demokratische Kultur der Raumplanung ebenso fremd wie der hiesigen SPÖ. Wer baut Niederösterreich? hat Reinhard Seiß zwar noch nicht geschrieben, doch einen möglichen Anlassfall für diese noch fiktive Recherche-Ausdehnung von der roten in die schwarze Reichshälfte des Filzes beleuchtete er kürzlich im Spectrum, dem lesbaren Teil der Tageszeitung Die Presse. Im niederösterreichischen Oberwaltersdorf kaufte Frank Stronach quasi als Fingerübung für sein geplantes Fußballstadion- und Einkaufszentren-Großprojekt im Süden Wiens in großem Stil billiges Grünland auf, das die Gemeinde willfährig in Bauland umwidmete und allein dadurch in seinem Wert um Millionen steigerte. Hier ließ sich Österreich die Unschuld rauben: Ein Land, das bisher ohne die soziale Obszönität der gated communities, der geschlossenen Parallelwelten der Winner ausgekommen war, wurde mit dem Wohnpark Fontana befleckt. Für eine Wohneinheit mitten in einer Golfanlage mit direktem Zugang zum künstlichen Badesee samt weißem Sandstrand muss ein Topmanager 600.000 Euro hinlegen. Stronach würde selbstverständlich auch eine Arbeiterfamilie akzeptieren. Die 600.000 müsste sie halt irgendwie auftreiben.


Wer baut Wien? von Reinhard Seiß erschien im Verlag Anton Pustet, Salzburg-München.  216 Seiten, EUR 22,-  buch@verlag-anton-pustet.at