Lokalmatador Nr. 273
Franz Deim verehrt die Vorortelinie: Vor 25 Jahren wurde sie wieder zum Leben erweckt.
Mein Gott, was war das für eine schöne Zeit! Franz Deim steht auf dem Bahnhof in Hütteldorf und blickt einem ausfahrenden Zug hinterher. 15 Jahre lang hat der 54-jährige Eisenbahner Dienst auf der Vorortelinie versehen, als Streckenbetreuer und Kontrollor, ehe er selbst in den Innendienst auf dem Westbahnhof wechselte.
Die Vorortelinie, ein Wiener Spezifikum. Ihre Idee geht auf das Revolutionsjahr 1848 zurück. Und war gar nicht so edel: Die erste Bahnstrecke wurde nicht für, sondern gegen das Volk gebaut. Gegen Revolution! Das Kaiserhaus wollte sich für neuerliche Aufstände besser rüsten. Schneller als zuvor sollten hier Truppen und Kanonen transportiert werden. Es ist dem Weitblick des Baumeisters Otto Wagner zu verdanken, dass die Bahn heute nur mehr friedliche Zwecke erfüllt. Wagner hat sie in den Jahren 1895 bis 1902 ausbauen und in sein Stadtbahn-Netz integrieren lassen.
Franz Deim steht immer noch am Bahnsteig. Er erinnert sich an die Wiedergeburt der Vororte-Bahn im Jahr 1987: «Ich war damals Zugbegleiter auf der Westbahn. Und wir haben uns alle ernsthaft gefragt, was die mit dieser Geisterbahn wollen.»
Geisterbahn war gar nicht weit gefehlt. Vor dem Neustart der S 45 als Schnellbahn hat er mit Kolleg_innen die Strecke und einige Bahnhofsgebäude inspiziert: «Die Gleise waren völlig verwildert, und die Bahnhöfe haben ausgesehen, als hätten dort eben erst Bomben eingeschlagen.»
Wenn über eine Sache bereits Gras wächst, dann meint der gelernte Wiener, dass man es damit auch beruhen lassen kann. Kluge Köpfe bei der Bahn, im Ministerium und auch bei der Stadt Wien haben hingegen das Potenzial erkannt. Man nahm viel, sehr viel Geld in die Hand. Zeitzeuge Deim zollt Respekt: «Es musste praktisch jeder Gleisschotterstein und jeder Schwellennagel erneuert werden.»
Doch kaum in Betrieb, ging es an der westlichen Peripherie, die längst in die Stadt hineingewachsen war, so richtig los: «Was wir zuvor nicht bedacht hatten, war, dass entlang der Strecke viele Wohnhäuser neu errichtet wurden, und dass wir sowohl in Hütteldorf als auch in Heiligenstadt Anbindung an die U4 bieten konnten.»
Die neue S-Bahn wurde vom ersten Tag an sehr gut angenommen: «Wir hatten mit 2000 Fahrgästen pro Tag gerechnet. Schon nach einem halben Jahr waren es 20.000»
Die Vorortelinie ist für die Eisenbahner_innen einzigartig ein Inselbetrieb. Heute noch fühlt sich Franz Deim als Insulaner. Wenn er zum Beispiel sagt: «Wir sind von der Vororte. » Oder: «Dort bist du mit jedem zweiten Schotterstein per du.» Oder: «Wir sind von der Berg-Tramway.»
Die S 45 gilt in Fachkreisen aufgrund ihrer Steigungen (mit 26 Promille die größte zwischen den Bahnhöfen Penzing und Breitensee), ihrer engen Kurvenradien, ihrer Tunnel und Viadukte als Bergbahn. Und sie bietet auf der knapp halbstündigen Fahrt von Hütteldorf nach Heiligenstadt und weiter zum Handelskai eine Reihe von lokalen Sehenswürdigkeiten.
«Es ist und bleibt auch die Otto-Wagner-Bahn», sagt Deim stolz und deutet dabei auf das Bahnhofsgebäude. In der Tat sind fast alle Stationen vom Star-Architekten des Jugendstils und seinen Leuten geplant worden. Von der Streckenführung bis zu den Kandelabern alles hat sich das Büro Wagner ausgedacht.
Sehenswert ist die Ausfahrt vom Bahnhof Hernals hinauf nach Gersthof, ebenso die Passage durch den Türkenschanzpark und dann die Abfahrt durch den Döblinger Wettsteinpark im Bereich der nie gebauten Station Oberdöbling, wo nicht nur dem Lokführer scheinen mag, dass ihm Heiligenstadt zu Füßen liegt.
Wie bei vielen Eisenbahnern ist auch bei Franz Deim der Weg zur und mit der Bahn vorgezeichnet: «Mein Vater war beim Oberbautrupp der Bahnmeisterei in Neulengbach.» Außerdem ist er in Preßbaum an der Westbahn aufgewachsen. Dort sieht und hört man täglich die Züge. «Und wenn wir die Verwandten in Wien besucht haben, dann sind wir damals schon modern, umweltfreundlich angereist.»
Im Jahr 1987 befuhren 36 Züge an einem Tag die neu verlegten Schienenstränge zwischen Hütteldorf und Heiligenstadt. Heute sind es 180. Auch wenn man bei den ÖBB keine Fahrgast-Zahlen bekanntgeben möchte (um nicht private Mitbewerber_innen auf den Plan zu rufen, wie offiziell gesagt wird), lässt sich doch festhalten: Die S 45 ist eine der erfolgreichsten Bahnlinien Österreichs.
Mit der Verlängerung der U3 bis zum Bahnhof Ottakring und der U6 bis Floridsdorf wurde die Vorortelinie für noch mehr Fahrgäste zur Option. In Kürze könnte sogar die 200-Züge-pro-Tag-Marke fallen. Die ÖBB verhandeln noch mit der Stadt Wien. Das durchgehende 10-Minuten-Intervall an Werktagen von der Früh bis am Abend ist also keine Utopie mehr.
Stolz sind die Insulaner_innen auch auf die Pünktlichkeit ihrer Züge. Sie liegt im Bereich nordkoreanischer Wahlergebnisse. Zuletzt wurden 99,9 Prozent gemessen.
Der nächste Zug fährt allerdings zum Westbahnhof gemeinsam mit Franz Deim. Der Eisenbahner, der mit der Erfahrung von 38 Dienstjahren heute die Zugbegleiter auf der Westbahn betreut, nickt zufrieden. Er weiß die von ihm verehrte Vorortelinie bei seinen Nachfolgern weiterhin in guten Händen.
Foto: Mario Lang