Beschwörung der ErinnerungArtistin

Comics über eine Kindheit im libanesischen Bürgerkrieg

Es ist ein dünnes Büchlein: «Ich erinnere mich. Beirut» ist kaum hundert Seiten stark. Der zweite Comic der libanesischen Autorin Zeina Abirached bildet mit ihrer ersten, fast doppelt so langen autobiografischen Comicerzählung, «Das Spiel der Schwalben», eine Einheit. Zusammen erzählen sie eine Kindheit inmitten des Bürgerkriegs im Libanon der 1980er Jahre. Von Martin Reiterer.Das Thema Krieg und die erschreckende Vorstellung, dass Kinder in eine Zeit des Kriegs hineingeboren und hineingezerrt werden, lassen uns angesichts der zahlreichen traurigen aktuellen Beispiele erschaudern, sofern wir diese Vorstellung an uns herankommen lassen. Als Abirached 1981 geboren wird, ist der Krieg in ihrem Heimatland bereits sechs Jahre alt. Als der Libanesische Bürgerkrieg Ende 1990 aufhört, ist sie selbst knapp zehn Jahre alt. Vielleicht ist es der Libanonkrieg des Sommers 2006, der die inzwischen in Paris lebende Autorin auf ihre eigene vom Krieg geprägte Kindheit zurückwirft. Im Rahmen einer Recherche stößt sie mit Überraschung auf einen Satz, den ihre Großmutter Annie in einer TV-Dokumentation über die Situation in Beirut 1984 ausspricht: «Wissen Sie, ich glaube, wir sind hier mehr oder weniger in Sicherheit.» Gleich einem Puzzlestein setzt Abirached dieses Bruchstück in ihrem Comic «Das Spiel der Schwalben», 2007 erstmals auf Französisch erschienen, ein. Auch der Titel ist ein Sammelstück, gefunden als Graffiti an einer Beiruter Mauer: «Mourir, partir, revenir. C’est le jeu des hirondelles» – «Sterben, wegziehen, wiederkehren. Das ist das Spiel der Schwalben.» Die Tätigkeit des Sammelns wiederum erinnert an Abiracheds kleineren Bruder, der in «Ich erinnere mich. Beirut» Granatsplitter sammelt. Zu Hause ausgelegt erinnern sie rätselhaft an eine andere beschädigte Wirklichkeit.

Der Krieg aus Abiracheds Kindheit ist nicht jener des offenen Schlachtfeldes, der Krieg stellt sich vielmehr buchstäblich als fortschreitende Einengung und buchstäbliche Einschränkung des Lebensraums dar, während sich das Schlachtfeld rundherum maßlos ausbreitet. Die Stadt ist geteilt, in Ost-Beirut und West-Beirut, in christlich und islamisch geprägte Zonen, dazwischen Mauern aus Containern, Sandsäcken oder Ziegelsteinen. Das Haus mit der Wohnung der Familie Abirached liegt direkt an der Demarkationslinie. Der Krieg schafft eine völlig neue Geografie, auf dem Stadtplan entstehen weiße Flecken, Stadtteile werden unzugänglich, verwandeln sich in Kriegsgebiet, implodieren, verschwinden. Eindrücklich zeichnet die Abirached den allmählichen Rückzug der Familie auf schließlich wenige Quadratmeter nach: Die Wohnungsräume werden zunehmend unsicherer vor Granaten und Einschüssen, müssen selbst als Barrikaden dienen, schließlich bleibt noch der Vorraum, die Diele, als sicherster Ort. Auf dieses «Hier» schränkt sich alles ein: «Hier, das ist der Raum, der uns bleibt.» Und die neue Geografie erfordert eine «komplexe und heikle Choreografie» der Fortbewegungen, um der unberechenbarsten Gefahr des Krieges, den Heckenschützen, zu entkommen: «Laufen, rennen, klettern, springen, dicht an der Mauer entlangrennen, sich bücken …»

Abiracheds Stärke zeigt sich in der pointierten anschaulichen Darstellung solcher Veränderungen und Prozesse des Alltags, denen sie immer wieder auch mit Humor begegnet. Die strenge grafische Reduktion wirkt dabei wie ein Reflex der erzwungenen Einschränkungen und Entbehrungen durch den Krieg. Doch sie erinnert auch an die Verfahren der konkreten Poesie wie etwa der Visualisierung zeitlicher Abläufe und Veränderungen durch serielle Wiederholung und Variation. Und tatsächlich entspringt ihrer Darstellung eine unverwechselbare Poesie, die mit Witz und Melancholie Fragmente einer Kindheit im Krieg aufblitzen lässt.

In «Das Spiel der Schwalben» erzählt Abirached aber auch die Geschichte einer Nacht im Jahr 1984, in der ihre Eltern, nur wenige Straßen von ihrer Wohnung entfernt, bei ihrer Großmutter festgehalten sind, da die Bombardierungen nicht aussetzen. Doch Zeina und ihr Bruder werden nicht allein gelassen: Im Lauf des Abends treffen, wie immer bei Luftangriffen, sämtliche Nachbar_innen in der Diele, als sicherstem Ort des Hauses, ein und erzeugen nicht allein für die Kinder eine Atmosphäre der Geborgenheit und des Zusammenhalts. In einer grafisch arrangierten Choreografie verwebt Abirached die traurigen bis skurrilen Geschichten der Besucher Anhala, Chucri, Ernest Challita und wie sie noch heißen miteinander und lässt dabei auf raffinierte Weise ein Gegenstück zu dem alten Wandteppich im Dielenhintergrund entstehen, der den Auszug Moses und der Israeliten aus Ägypten darstellt.

Im Vergleich zu dieser ersten Comicerzählung gleicht «Ich erinnere mich» einer grafischen Etüde des Erinnerns und eindringlichen Beschwörung vergangener Augenblicke. Das kommt durch das wiederholend einsetzende «Ich erinnere mich», das den Comic Absatz für Absatz durchzieht. «Ich erinnere mich an [Mutters] marineblauen R12.» «Ich erinnere mich, dass die Karosserie von Kugeln durchlöchert war. Jedes Mal, wenn im Viertel eine Granate fiel, ging die Windschutzscheibe kaputt.» Dass «Ich erinnere mich. Beirut» auch eine Hommage an den französischen Schriftsteller Georges Perec (1936–1982) darstellt, ist für die französischsprachige Leserschaft, anders als für die deutschsprachige, auf Anhieb erkennbar. Sein 1978 erschienenes Buch «Je me souviens» /«Ich erinnere mich», das unverständlicherweise bisher noch nicht ins Deutsche übertragen wurde, hat in Frankreich Kultstatus. Perec, der Mitglied von Oulipo (auch bekannt als «Werkstatt für Potentielle Literatur») war, hat darin eine Methode des Fragments zelebriert und durchdekliniert, die sich gewissermaßen der Rettung der Erinnerung verschreibt. Den Hinweis auf Perec gibt Abirached übrigens am Ende des Comics. Während «Ich erinnere mich. Beirut» einerseits an die Geschichten aus «Das Spiel der Schwalben» mit dem großteils bereits bekannten Personal anschließt, erlaubt ihr die Übertragung der oulipotischen Methode auf den Comic andererseits, auch disparate Erinnerungsbruchstücke auf eindrucksvolle Weise miteinander zu verknüpfen.

Info:

Zeina Abirached: Ich erinnere mich. Beirut. Übersetzt von Paula Bulling. Berlin: avant-verlag, 2014

Zeina Abirached: Das Spiel der Schwalben. Übersetzt von Paula Bulling und Tashy Endres. Berlin: avant-verlag, 2013