Der Wienerberg – eine leicht und schnell erreichbare «Urlaubsidylle»
Eine postindustrielle Karriere ist möglich. Es gibt ein Leben nach Ausbeutung und Kapitalismus – in der Natur. Nach einer erfüllten Zeit als Lehmgrube für den Ziegelabbau kam nach dem Aus die Existenz als Mülldeponie. Seit etwa 25 Jahren ist der Wienerberg saniert und gilt als Oase der Naherholung. FKK inklusive, per Selbstermächtigung fand Karl Weidinger (Text und Fotos) heraus.
Bildtext: Am Wienerberg gelten eigene Gesetze, quasi ein subversiver öffentlicher Raum. So ist bspw. der See nicht als Badewasser gewidmet
Mittlerweile ist es Sommer geworden. Sommer in der Stadt. Erholung tut not – ebenso wie Abkühlung. Unweit der Spinnerin am Kreuz, einer ehemaligen Hinrichtungsstätte, liegt eine «Urlaubsidylle», leicht und schnell erreichbar. Kaum weiter entfernt als Balkonien, womit der Urlaub zuhause gemeint ist. Und dort gibt es eine zwar nicht erlaubte, aber geduldete Möglichkeit, mitten in der Stadt textilfreien FKK-Urlaub zu machen.
Der Wienerberg liegt im einwohnerreichsten Bezirk Wiens, in Favoriten. Das Erholungsgebiet bringt 117 Hektar auf die Karte, davon sind zwölf Hektar Wasser. Seit etwa 25 Jahren hält das Forstamt der MA 49 seinen grünen Daumen aufs Gelände. Ein Paradies zum Joggen und Radfahren. Ebenso für Walker und Stalker. Anderthalb Millionen frequentieren das Areal im Süden Wiens statistisch, macht durchschnittlich 4.000 am Tag immerhin – wenn’s wahr ist.
Viele Wege führen zum Wienerberg. Es sind die vier Fahrspuren, der auch gerne als Rennstrecke genützten Triester Straße. Tram 65 und 67 bimmeln zum Naherholungsgebiet, auch die Öffi-Busse 7A, 15A, 65A führen zum Paradies für Nackedeis. Die meisten kommen mit dem Fahrrad. Auch wenn es – typisch Wien – nicht erlaubt ist. Ebenso wie das Baden. Auch Grillen & Chillen verboten. Offenes Feuer detto. Kampieren auch. Schlafen und Wohnen im Reservat sowieso. Und Nacktbaden, eh klar.
Dazu überliefern Frühgeborene (Jahrgang 1939, kommt nahezu täglich mit Radl) und Spätberufene eine Oral History, die sich wie Frontberichte anhören. Die Polizei führte Razzia durch, Politik und Bezirk hätten urgiert. Verklemmte Uniformiertheit prallte auf barbusige Unverschämtheit. Wie im Film mit Louis de Funès aus 1966. Ausweise Mangelware. Die FKKler_innen wurden verwarnt, abgemahnt und belehrt. Auf dass sie sich züchtig bekleiden. Um kein sittenwidriges öffentliches Ärgernis zu erregen und verbotsmäßige Folgehandlungen zu unterlassen. Als die Funkstreifen abgezogen waren, wurde sich wieder entblößt. Reine Lappalie, Formsache für Nudist_innen. Doch nur ein kleiner Teil des Naherholungsgebiets ist durch Selbstermächtigung dazu vereinnahmt worden. Und hat sich hier per Gewohnheitsrecht verfestigt.
Nahtlos tief die Bräune. Unsportlich die Figur. Gepiercte Mütter und tätowierte Großmütter beten die Sonne an. Väter und Großväter tragen Bauch und Che Guevara als genadelte Verzierung auf der Wampe. Alles in die Jahre gekommen, auch die gelebte Ersatzfamilie. Man schaut auf einander – im positiven Sinn. Spanner und Wichser werden gemeinsam verscheucht. Alles schon dagewesen: Porno-Shootings, Polizei- und Rettungseinsätze, Diebstähle, öffentlicher Geschlechtsverkehr. Aber auch Leichenfunde und (Selbst-)Tötungsdelikte.
Vor einem Vierteljahrhundert wurde das ehemalige Ziegel-Abbaugebiet umgewandelt. Die erste Abzweigung von der Zivilisation mit den Hinterlassenschaften der gegenüber liegenden Mac-Fressbude, trägt den Namen des Planers: Wilfried-Kirchner-Weg. Massimiliano Fuksas Zwillingstürme in unausblendbarer Sichtweite wurden zum Wahrzeichen. Große Bindestrich-Namen der Bauszene haben an der Skyline mitgetürmt: Delugan-Meissl, Coop-Himmelb(l)au und der-die-oder-das Monte-Verde des Architekten Albert Wimmer. Und von jedem Punkt des Schwimmens im Teich sind diese Landmarken sichtbar.
Die Bilder sind im Kopf: Immer wenn ein Flugzeug in Richtung Schwechat einschwenkt und den Luftraum oberhalb der Skyline am Horizont durchpfeilt, erwartet man, dass es in die Glastürme kracht. Aber passiert nicht. Den Blick beim Schwimmen gesenkt, sieht man wie die Schwalbengeschwader übers Wasser schwirren und einen Schnabel voll Wasser aufnehmen. Aber was tut sich an Land?
Psst, nicht weitersagen: Jakob der Rabe ist eine Krähe. Geliebt wird er von allen hier. Kann auch sein, dass es mehrere Exemplare sind. Zutraulich ist er (oder seine gefiederten Epigonen), bekommt immer was ab. Angefüttert und handzahm, wie die meisten hier.
Ein Areal für die Kommune
Im geschützten Teil befinden sich einige der auf der Roten Liste stehenden Arten wie der Feuerfalter oder die Sumpfschildkröte. Inzwischen kommt auch der Biber vorbei und huscht durch den Busch. Der Biber hat noch keinen Namen (kann auch eine Bisamratte sein). Im Frühjahr war er heuer besonders motiviert und hat eine Pappel gefällt. So geht Wildnis, so muss Natur.
Bereits zur Römerzeit wurden hier Lehmvorkommen genutzt. 1775 ließ Kaiserin Maria Theresia die erste Ziegelei errichten, die sich bis 1820 zur größten Europas auswuchs. Wiens Gründerzeit war geprägt durch Ziegelbauten, wie heute durch Glas und Alu. Die Produktion ging ab 1870 mit einer heftigen Ausbeutung der Arbeitskräfte einher, nicht selten Kinderarbeit. Die aus den Kronländern Zugewanderten wurden «Ziegelbehm» genannt. Die Wanderarbeiter_innen dieser Migrationswelle wurden sesshaft und schafften den Aufstieg zu Facharbeiter_innen.
Als um 1950 der Lehmabbau unrentabel wurde, versickerte hier das Ziegel-Gewerbe. Die Produktion schlief ein. Zurück blieb ein Brachland mit Tümpeln aus Lehmgruben. Das Areal wurde der Kommune umgehängt und verkam zur Müllhalde zwecks Schuttablagerung, später kam eine Motocross-Strecke dazu. Auch illegal.
Nach 20 Nachdenkjahren wurde ab 1970 ein «Masterplan» angedacht und ein Ideenwettbewerb gestartet. 1995 erfolgte die Widmung zum geschützten Landschaftsteil und Naherholungsgebiet. Charakteristisch sind die Trockenrasenfluren im südöstlichen Teil des Geländes.
Oberste Kompetenz hat Uwe Skacel von der MA 49, dem Forstamt. Er ist seit mehr als 20 Jahren der Stadtförster hier, kennt jeden Baum und Strauch. Seine Kindheit verbrachte er in der berüchtigten «Kreta»-Siedlung, einem Plattenbau in der Nähe. (Die Favoritner «Kreta» war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Jugendbanden und soziale Missstände berüchtigt.) In einer Chronik schreibt er über die internen Namen der Areale. Nur das «Guru-Bergerl» und der «Aidshügel» stehen unter Regentschaft der FKKler_innen. Wie es zu diesen Bezeichnungen kam, wird diskret verschwiegen. Er nennt sein Revier die «Republik Wienerberg». Weil hier eigene Gesetze gelten. Ein subversiver öffentlicher Raum, geschaffen durch Selbstermächtigung und Aneignung. In Eigenregie – und ohne Konsumzwang. Paradies mit anderen Worten, inmitten der Großstadt.
Das Wegenetz umfasst 14 Kilometer und führt um die kleinen sowie den großen Teich. Laut MA sowieso, Wasserkunde und Limnologie, weisen alle ausreichende Wasserqualität auf. Der See ist jedoch offiziell nicht als Badegewässer gewidmet. Weil dann bräuchte man Verwaltung, Administration, Infrastruktur, Logistik – und Rettungseinrichtungen. Auch gut so.
Die Nackt-Gurus fürchten sich nicht, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Viel mehr treibt sie die Sorge um, dass der Teich infolge des wuchernden Schilfgürtels zuwächst. Das kann nicht passieren, sagte der Förster im Radio-Augustin-Gespräch, weil die Uferböschung unter Wasser steil abfällt. Die Wasserqualität ist am Ende der Badesaison schlechter. Der menschliche Faktor spiele keine Rolle. Eher die Population der Gänse, Enten, Hunde, Kinder.
Die 14 Hektar Gewässer mit einer Tiefe von bis zu 30 Metern sind an den Arbeiterfischereiverein verpachtet. Ein Eldorado für Karpfen- und Raubfischfischer. Es gibt auch immer wieder skurrile Dialoge, wenn friedensbewegte Nackte (beiderlei Geschlechts) die Fischer (einerlei Geschlechts) vom Töten von «Bruder Fisch» abhalten wollen – aber das ist eine andere Geschichte.
P.S.: Mein persönlicher Rekord zum Tag des ersten Nacktschwimmens im Teich ruht beim 14. März 2014 – bei 14° Celsius.