Betteln als Beruf?tun & lassen

Frauen mit Überlebenskompetenz und "Habitus des selbstbewussten Leidens"

Betteln.jpgIst Betteln Arbeit? Oder gar ein Beruf, der spezifisches Wissen und kontinuierliches Lernen erfordert? Marion Thuswald sprach mit Bettlerinnen auf Wiens Straßen und entwickelte eine neue und ungewöhnliche Forschungsperspektive auf das Thema, die die Frauen nicht nur als passive Opfer ihrer sozialen Schieflage wahrnimmt.

Warum hast du das Thema Bettlerinnen für deine Diplomarbeit gewählt?

Das Thema Betteln beschäftigt mich schon seit Jahren. Ich habe ein Jahr in Vukovar in Kroatien gearbeitet. Da habe ich Bettlerinnen aus Roma-Familien kennen gelernt, mit denen ich mittlerweile befreundet bin. Das war ein erster Bezugspunkt. Nach Wien zurückgekommen, war ich sehr ansprechbar für diese Thematik. Da wollte ich mehr wissen drüber, was aber schwierig war. Gegen Ende meines Studiums der Bildungswissenschaften habe ich bemerkt, dass viel mehr Bettlerinnen auf der Straße sitzen, viele mit Kindern. Da wollte ich die Diplomarbeit nutzen, um mich dem Thema wieder anzunähern. Es hat in mir sehr viele ambivalente Gefühle ausgelöst. Aber ich dachte, es wäre spannend, ein Thema zu nehmen, wo man nicht von vorneherein weiß, was rauskommt.

Im Titel deiner Arbeit heißt es: Betteln als Beruf? Ist Betteln deiner Meinung nach ein Beruf?

Das ist eine spannende Frage. Ich habe mich dem zunächst theoretisch genähert und bin zu dem Schluss gekommen, dass man Betteln gemäß der gängigen Definitionen durchaus als Beruf ansehen kann. Es war ja historisch gesehen auch ein Beruf, zum Beispiel im Mittelalter. Politisch gesehen ist aber die Anwendung eines Berufsbegriffs sehr problematisch, der nicht auch soziale Absicherung und Ausbildung beinhaltet. Betteln ist aber als Arbeit zu fassen. Der von mir verwendete breite Arbeitsbegriff umfasst alle Tätigkeiten, durch die Menschen ihre Lebensgrundlage schaffen bzw. erhalten und sich einen Anteil am historisch gewachsenen gesellschaftlichen Reichtum sichern.

Du hast Bettlerinnen auf der Straße angesprochen und sie interviewt. Was hast du gemacht, um den Frauen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, um ihr Vertrauen zu gewinnen?

Da habe ich mir viel Gedanken gemacht und zunächst einmal Bettlerinnen auf der Straße beobachtet. Dann haben wir eine Dolmetscherin für Rumänisch und Ungarisch, die ich engagiert habe und ich die Frauen auf der Straße angesprochen. Und ich hatte auch meine kleine Tochter dabei, sechs Monate alt. Einerseits weil ich sie noch gestillt hab, andererseits weil ich mir dachte, dass es vielleicht so auch leichter wäre, mit den Frauen ins Gespräch zu kommen, und das den Vertrauensaufbau unterstützt. Wir haben die Frauen gefragt, ob sie mit uns in ein Café gehen oder in einen Park und dort mit uns sprechen. Ich hab mich immer gefragt, wie kann ich die gleiche Ebene herstellen, wie weit können wir aus der Konstellation Bettlerin und potenzielle Geberin aussteigen. Ich habe versucht, das so zu lösen, dass ich zu Beginn gesagt habe, ich gebe ihnen Geld, so viel, wie ihnen durch das Interview entgeht. Ich sehe es heute als Fehler, dass wir nicht am Anfang des Interviews eine klare Summe vereinbart haben. Das hab ich bei einem der letzten Interviews gemacht und gemerkt, wie das die Situation verändert hat. Dadurch war von vorneherein der Kontrakt klar, mehr Gleichheit hergestellt, und die Frau konnte dann sagen, jetzt reichts ihr, jetzt geht sie.



Was sind die spannendsten Ergebnisse deiner Arbeit?

Durch den EU-Beitritt der Herkunftsländer der Frauen ist ein Restraum entstanden, der eigentlich eine Nebenwirkung der Osterweiterung ist und den nutzen die Frauen. Sie sind aber nur temporär geduldet in diesem Raum, der für die Frauen gleichzeitig Überlebensunsicherheit und soziale Ausschließung bedeutet. Bezüglich notwendigen Berufswissens und erforderlicher Kompetenzen hat sich einerseits die Wichtigkeit der Netzwerke für die Frauen herausgestellt. Das Lernen passiert in diesen Netzwerken, Lernen voneinander, sich gegenseitig die Informationen weitergeben. Zentrale Fähigkeiten für sie als Bettlerinnen sind: die Orientierungsfähigkeit in einer für sie fremden Stadt, wo sie oft die Sprache nicht verstehen, die richtige Platzwahl, die Fähigkeit, ihr Anliegen glaubhaft rüberzubringen, auch Sprachkenntnisse. Dann auch so Dinge wie Frustrationstoleranz, Geduld, nicht ärgerlich oder aggressiv zu werden, wenn man bespuckt, angegriffen oder verhaftet wird. Ich habe ein Konzept entwickelt, das ich Überlebenskompetenz genannt habe. Ich habe versucht herauszufinden, was die spezifische Kompetenz ist, die die Frauen haben wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Diese Überlebenskompetenz hat verschiedene wie ich sie genannt habe Aktionsmodi: z. B. Normalität herstellen im unbekannten Chaos; dass die Frauen es schaffen, eine Alltagsstruktur herzustellen, eine Routine mit bekannten Abläufen, ist total wichtig, um überleben zu können. Oder ein Wir herstellen, als imaginäre Gruppe Wir Bettlerinnen.

Wie schaffen sie das?

Durch den persönlichen Austausch, sie kennen die Schicksale der anderen und fühlen sich verbunden. Wir, die wir auf der Straße leben. Wir, die wir reingeboren wurden in so eine schlimme Situation. Der Bezug auf ein Wir, das haben die Frauen stärker gehabt, die schon länger betteln. Das Wir Bettlerinnen geht über die hinaus, die sie kennen; es beinhaltet auch die, die sie sehen, Frauen, die auch leiden. Leiden das ist etwas, das die Frauen als eine durchgehende Lebenserfahrung beschreiben. Seit meiner Kindheit habe ich viel gelitten und immer viel geweint und so, also eine ganz starke inkorporierte Erfahrung. Ich habe das formuliert als Habitus des selbstbewussten Leidens. Die Frauen beschreiben nur ganz am Anfang ihres Bettelns so eine kurze Phase der Scham. Und dann so habe ich es empfunden ein ziemliches Selbstbewusstsein, so eine Überzeugung der Legitimität ihres Anliegens. Ich hatte das Gefühl, sie eignen sich ihr Leiden so selbstbewusst an. Sie agieren mit dem Leiden und sind nicht die total passiven Opfer. Sie strahlen schon ein ziemliches Selbstbewusstsein aus. Je länger sie betteln, desto mehr. Das macht sich dann auch an so kleinen Dingen fest: so etwa, wenn die Frauen sagen, dass es eigentlich eine Frechheit sei, wenn die Polizei ihnen das Geld wegnimmt. Nämlich auch eine Frechheit den Gebenden gegenüber, die ja das Geld der bettelnden Frau und nicht der Polizei gespendet haben!

In der jüngsten Diskussion rund um die Gesetzesnovellierung des Wiener Landessicherheitsgesetzes ist es auch wieder aufgetaucht: Die sind ja alle organisiert und missbrauchen ihre Kinder was ist deine Meinung dazu?

Organisiert ist ja normalerweise kein negativer Begriff. Natürlich sind die Frauen organisiert. Selbstorganisation ist ja etwas Positives. Was aber eigentlich hinter dem Vorwurf steckt, ist Organisation, hinter der Ausbeutung steckt. Da schwingt mit: Die Hintermänner nehmen den Frauen das Geld ab und ihnen bleibt nichts. Diese Form von Ausbeutung habe ich nicht gefunden. Die Polizei versteht organisiert ja so, dass schon da, wo drei Personen miteinander kommunizieren, und sei es nur mit den Augen, organisiertes Betteln und damit ein strafbarer Tatbestand vorliegt. In den Anzeigen steht dann, sie hatten Augenkontakt egal ob das Mutter, Tochter oder Sohn sind. Schon Kooperation wird als organisiert angesehen. Das ist ja in der Migrationsforschung ein bekanntes Phänomen, dass Menschen, die sonst kein Kapital haben, ihr soziales Kapital, also familiäre und ethnische Netzwerke, nützen und auch das kulturelle Kapital, also z.B. ihre Moralvorstellungen, von zentraler Bedeutung sind. Die Frauen haben eine starke auch religiös begründete moralische Integrität. Gestützt durch die Legitimität ihres Anliegens. Und genau an diesen zwei Punkten, an ihren größten Stärken, werden sie angegriffen: Ihre Netzwerke werden kriminalisiert als organisierte Bettelei. Und die Moral wird ihnen abgesprochen, indem gesagt wird, sie beuteten ihre Kinder aus und missbrauchten sie zum Betteln.


Teil 2 des Interviews in der nächsten Ausgabe (227)

Marion Thuswald: Betteln als Beruf? Wissensaneignung und Kompetenzerwerb von Bettlerinnen in Wien Diplomarbeit, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien 2008