«Mein Gedanke ist, dass Mama nach Hause zurückkehrt. Ein ganz kurzer Gedanke: Mama nach Hause!». Denn was soll Zuhause heißen, wenn man darin alleine zurückbleiben kann?Die rumänische Band «Voltaj» singt in «De la capăt», ihrem Beitrag zum glamourösesten musikalischen Ereignis des Jahres in der Wiener Stadthalle, von den Millionen Kindern, die zu Halbwaisen der Arbeitsmigration werden. Zwar untermalt «Voltaj» das in Text und Bild mit hollywoodesken Gesten, aber von der Hand zu weisen ist die Frage nicht: Was machen eigentlich die Kinder von denen, die entlang dem Lohngefälle schuften gehen? Kann eine Erdbeerpflückerin eine Tagesmutter bezahlen? Sind die Bauarbeiter alle mit Frauen gesegnet, die ihnen den Rücken frei halten? Verpasst man beim Aufpassen auf die Kinder der anderen eigentlich das Größerwerden der eigenen?
Mit Liliana Corobcas «Der erste Horizont meines Lebens» (auf Rumänisch erschienen unter dem Titel «Kinderland») kommt nun die Literatur dieser Kinder, so sie schon erwachsen geworden sind, ins Bücherregal jener ebenso erwachsenen Kinder, deren Eltern durch die Arbeit dieser anderen Eltern zu Wohlstand gekommen sind. Und weiter dazu kommen.
Cristinas verlassenes Zuhause ist ein Dorf irgendwo in Moldawien. Ihre Mutter zieht statt ihrer eigenen italienische Gschroppen auf, ihr Vater versucht von Russland aus Schulden abzubezahlen. Und Cristina selbst, die hat «das eine oder andere von Mutter und von Großmutter gelernt, damit sie gegebenenfalls ihren Brüdern beistehen kann». Sie kann Wunden verarzten, sich gegen übergriffige Nachbarn wehren, einen Haushalt schupfen. Gleichzeitig in die Schule gehen, sich verlieben, sich prügeln, wenn’s Not tut. Manchmal sehnt sie sich ganz pragmatisch nach Zauberkräften. Meistens einfach nur nach vertrauten Erwachsenen, die sie ein Kind sein lassen. Eine zart geflochtene, unkitschige Geschichte von der anderen Seite der kapitalistischen Ökonomie, die Europa zu einem klassengespaltenen Gebilde macht. Gut, dass manche dieser Kinder letztlich Schriftstellerinnen werden.
Liliana Corobca:
Der erste Horizont meines Lebens
Zsolnay 2015, 191 Seiten, 19,50 Euro