Bibliotick: Nachtfahrt der Gurkenpflücker_innenArtistin

Andrei ist nach Österreich gefahren, um Erdbeeren zu pflücken. Und ist dann bis zu den Gurken geblieben, bis in den Spätherbst, weil es heuer so warm und die Saison so lang war. «Einmal wurde er bezahlt, einmal um den Lohn betrogen.»Codruţa hat ihrer kleinen Tochter eingebläut, in der Öffentlichkeit deutsch zu sprechen. Weil sie schon genug beleidigt werden als Romnija. Erzsébet hat Hunger, aber sie isst nichts, sonst könnten die Modelverträge ausbleiben. Victors Chef mag Arbeitsunfälle nicht, weil es da ein Problem gibt mit der Versicherung. Aber wenigstens ist Victor, der im Innenausbau tätig ist, nicht von der Winterarbeitslosigkeit am Bau betroffen. Ioan lenkt den pinken Autobus der Firma Speranza von Viena über Oradea nach Cluj in Tag- und Nachtschichten, die ihn von seinem Sohn entfremden; aber auch der hat immer mehr Verständnis, je älter er wird.

In ihrem Panorama einer Autobusfahrt von Wien nach Westrumänien (wer nach Bukarest weiterwill, muss in Cluj umsteigen) spinnt Verena Mermer einen langen Geschichtenfaden kreuz und quer durch die Sitzreihen. Zwischen der Zufriedenheit mit den Weihnachtsgeschenken im Gepäck, den unfertige Träumen vom besseren Leben und den resignierten Gedanken über ein Land, dem zwischen Realsozialismus und Turbokapitalismus wenig Verschnaufpause gegönnt war, macht sich die Müdigkeit der prekär Arbeitenden breit. Gut informiert (nicht zuletzt durch die vielen Gespräche, die sie in Rumänien und Österreich zum Thema führte) verknüpft Mermer individuelle Lebensentwürfe mit dem großen Gefälle der transeuropäischen Ökonomie. Mermers Protagonist_innen versorgen die Kinder der anderen (die Namen wie «Marie-Claire» tragen), während die eigenen Kinder sich nach den Eltern sehnen (aber zumindest gibt es wieder Geld für neue Kleidung). Sie bauen Häuser in Wien und ernten im Marchfeld Gemüse, während das eigene Leben brachliegt. Aber sie sind in dieser Geschichte keine gesichtslose Armada der Ausgebeuteten, sondern Charaktere mit der Fähigkeit, selbst zu entscheiden. «Sie sind angekommen – egal ob das eine gute oder schlechte Nachricht ist.» Im Frühjahr wir die Autorin ihren Roman im Aktionsradius am Gaußplatz vorstellen.

Verena Mermer:

Autobus Ultima Speranza

Residenz Verlag 2018

200 Seiten, 20 Euro