Gschäftl-Report (2. Folge)
Im Stummfilmklassiker Metropolis entwirft Fritz Lang die Utopie einer Zweiklassen-
gesellschaft. Während die Elite in ihren Türmen und paradiesischen Gärten ein Leben in absolutem Luxus führt, ist die Arbeiter_innenklasse nichts als ein Heer von Robotern, das in den Niederungen der Stadt für den Gewinn der Reichen schuftet.
Arthur Fürnhammer (Text) und Mario Lang (Fotos) besuchten Ottakrings letzten Greißler.
In den Augen von Alexander Blechinger ist Fritz Langs Utopie längst Realität geworden. Denn natürlich könnte Blechinger, der klassisch ausgebildete Musiker, Komponist und Dirigent, auch im 50 Meter entfernten Supermarkt seine Einkäufe tätigen. Aber Blechinger ist einer, der gern das Gespräch sucht. Und wer weiß, mutmaßt er, «die würden vielleicht entlassen werden beim Billa, wenn sie mit dem Kunden zum Tratschen anfangen». Und weil er das nicht riskieren will, kommt er lieber einmal die Woche zu Feinkost Ottendorfer in die Haberlgasse 58. Dort bekommt er fast alles, was er braucht, und sogar noch mehr. Denn vielleicht gibt es hier kein Buchweizenmehl und keine siebzehn Sorten Joghurt, dafür gibt es die persönliche Beziehung zum Chef, den Blechinger gern mit seinen Fragen löchert und mit seinen politischen Ansichten nervt. Und mit dem er zwanglos Schmäh führen kann. Es ist diese «Lebensqualität im Einkauf», die Blechinger so schätzt und die den Musiker, obwohl er vor ein paar Jahren in den 13. Bezirk gezogen ist, immer noch einmal pro Woche in seine ehemalige Wohngegend kommen lässt, um bei seinem alten Greißler einzukaufen. Denn dort, wo er jetzt wohnt, gebe es so ein Geschäft nicht, sondern nur austauschbare Supermärkte mit austauschbarem Personal.
Charakterfrage.
Letztendlich sei alles eine Frage des Charakters, resümiert Blechinger. Er zieht eine Parallele zwischen der Musikbranche und der Handelsbranche: «In der Musik bringe ich den Charakter rüber. Und im Geschäft erfahr ich den Charakter halt auch. Hier arbeiten jedenfalls lauter Charaktertypen», verweist der Musiker auf Ottendorfer und seine Mitarbeiter_innen.
Während der Künstler also die Utopie erfüllt sieht und dem automatisierten das personalisierte Einkaufserlebnis vorzieht, blickt der Geschäftsmann Komm.-Rat. Peter Paul Ottendorfer der Realität eher nüchtern entgegen. Fakt ist: Das Greißlergeschäft ist tot, jedenfalls stirbt es. So um die 25 gebe es noch in Wien. Ottendorfer muss es wissen, arbeitet er doch nebenbei als stellvertretender Spartenobmann bei der WKO. Doch der Trend lasse sich eben auch nicht umkehren, noch mache es Sinn, ihn zu beweinen. Ottendorfer: «Ich bin einer, der nicht zurückdenkt.»
Die Greißlerei als Hobby.
Tut er es doch, dann eben ohne Sentimentalität. Fünf Greißler hätte es rund um die Haberlgasse einmal gegeben, doch das ist Jahrzehnte her. Die Geschichte des Feinkostladens reicht zurück bis ins Jahr 1903. Der Lebensmittelhändler damals hätte der ursprünglichen Begriffsbedeutung entsprechend – das Wort Greißler kommt von Grießler, also von Grieß – hauptsächlich Getreideprodukte geführt. 1962 übernahmen Ottendorfers Eltern das Geschäft. Der Sohn, ein gelernter Zuckerbäcker, nahm das nebenan gelegene Zuckerlgeschäft dazu und machte daraus ein Kaffeehaus. Dieses stellt sich heute als eine Mischung aus Tschocherl und Konditorei dar und verfügt augenscheinlich über ein treues Stammpublikum. Außerdem erweiterte Ottendorfer das Geschäft um ein weiteres Angebot: das Partyservice. Mit seinen belegten Brötchen schuf er sich ein zweites Standbein und machte sich dadurch auf schlecht Neudeutsch zukunftsfit. Heute erwirtschaftet er mit seinem Cateringservice 80 Prozent seines Gesamtumsatzes. Die Greißlerei betreibt er nur noch als Hobby. Immerhin bietet diese den Vorteil, dass er nicht verkaufte Ware, die noch frisch und gut ist, für die Brötchen verwenden kann. Der Erfolg gibt ihm recht. Heute beliefert er nicht nur drei Wiener Krankenhäuser, sondern auch zahlreiche Ministerien und das Bundeskanzleramt. Während der EU-Präsidentschaft wird er alle Hände voll zu tun haben. Aber natürlich nicht nur er. Zehn ständige Mitarbeiter_innen gehen ihm unterstützend zur Hand.
Anfangs hatte er Lehrmädchen aus dem Waldviertel, die froh waren, wenn sie nach Wien gekommen sind, und die gute Arbeit geleistet haben. Doch das hat sich aufgehört. Dann hatte er Lehrmädchen aus dem Burgenland. Doch auch mit diesen war es bald vorbei. Dann hatte er Wienerinnen, doch diese wollten nicht arbeiten. Auch mit den Türkinnen funktionierte es nicht so recht, weil diese eher darauf aus waren, ihre Auszeit von zuhause eher als Freizeit denn zum Arbeiten zu verwenden. Mit den Mitarbeiterinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien ist er hingegen hochzufrieden. Neben diesen rekrutiert sich seine Belegschaft vor allem aus alten, pensionierten Greißlern, die von Herrn Ottendorfer gefragt wurden, ob sie nicht ein wenig in seinem Geschäft aushelfen wollen. Gar nicht so sehr, um sich etwas dazuzuverdienen, sondern eher, damit sie der Branche noch etwas erhalten bleiben. So beschäftigt er etwa einen alten Greißler aus dem 20. Bezirk, der ihm ein paar Stunden pro Woche aushilft, genauso einen aus dem 15. Bezirk. Außerdem arbeitet für ihn der Hansi, der ehemalige «König der Aufstriche», der in seiner Greißlerei im 6. Bezirk für seine Aufstriche berühmt war. Sie alle helfen beim Ausliefern der Ware oder, wie gerade auch der alte Zuckerbäckermeister hinten im Geschäft, beim Belegen der Brötchen.
Der Großteil des ohnehin eher kleinen Geschäftslokals ist dem Herstellen der Cateringware gewidmet. Auch Nadesch-da (der Name bedeutet, wie Blechinger weiß: Hoffnung) und Frau Swoboda (auch «Swobi» genannt) helfen mit, die auf etlichen Tiefkühltruhen aufgelegten Tabletts mit belegten Brötchen zu drapieren. Mehr als zutreffend ist die von einem der alten Greißler stammende Bemerkung, Herr Ottendorfers Geschäft sei «der Gnadenhof der oiden Greißler».
Ansprechpartner.
Kundschaft wie Herrn Blechinger, der extra aus dem 13. Bezirk zum Einkaufen kommt, hat Herr Ottendorfer natürlich nicht en masse, und es ist einem äußerst glücklichen Zufall geschuldet, dass dieser ausgerechnet beim Lokalaugenschein des AUGUSTIN zugegen ist. Aber Ottendorfer hat auch sonst noch etliche Stammkund_innen, die ihm die Stange halten. «Ich hab ein paar alte Hausfrauen, die bei mir gut einkaufen.» Schon um 6.15 Uhr in der Früh kommen außerdem die ersten Schüler_innen. Und ganz verlässlich kommen auch die Kund_innen von «Jugend am Werk». «Das sind die Behinderten, die sind mir natürlich auch ans Herz gewachsen, weil ich sie schon 50 Jahre kenne.» Da gebe es so ein «Faktotum wie den Emmerich», der schon 80 Jahre alt sei und noch jeden Tag zu Jugend am Werk gehe, weil er, wie er sagt, die Verpflichtung habe zu arbeiten. Dann gebe es den «kleinen Andreas», der, wenn er das Lokal betritt, zuerst zeigt, dass er gut geschlafen hat, dann eine Wurstsemmel bestellt und immer auf ein Retourgeld besteht, obwohl die Wurstsemmel genau einen Euro kostet. Seit Jahr und Tag gibt ihm Ottendorfer immer einen Cent zurück, weil der «kleine Andreas» eben ein Retourgeld will. «Die von Jugend am Werk brauchen alle einen Ansprechpartner, und das bin halt ich, das haben sie beim Billa drüben nicht. Ich verdiene schon daran, aber du musst dich halt für die zehn ein bisschen bemühen.»
Branchenfremd.
Bemüht hat sich der 67-Jährige ein Leben lang. Er denkt daher ans Aufhören. Das lange Stehen machen seine Beine nicht mehr mit, auch wenn er nur halbtags arbeitet und am Nachmittag in der WKO nach dem Rechten sieht. Wenigstens ist die Nachfolge gesichert. Der Lebensgefährte der Tochter wurde zwei Jahre lang bearbeitet und hat endlich zugesichert, obwohl branchenfremd, das Geschäft weiterführen zu wollen.
Herr Blechinger kann auf die von ihm so geschätzte Lebensqualität im Einkauf also noch länger zählen. Und es ist dies tatsächlich eine Beziehung zwischen Kund_innen und Händler, die man suchen muss. Denn nicht nur, dass Blechinger zu jedem Einkauf ein kleines Partybrötchen extra dazubekommt. Heute sagt Peter Ottendorfer, nachdem der treue Stammkunde seinen kleinen, eng beschriebenen Einkaufszettel abgearbeitet hat: «Die Milada, die sonst immer das Brötchen für Sie macht, ist heute nicht da. Und die Swobi hat sich gesagt, sie will die Milada übertreffen, und deswegen bekommen Sie heute auch noch ein Lachsbrötchen und einen Käsespieß dazu.» Herr Blechinger daraufhin: «Da sieht man, wie sie mich auf meiner schwachen Seite wieder kalt erwischt haben.»