Bitte Platz nehmen!vorstadt

Die in Deutschland geborene und seit 20 Jahren in Schweden lebende und lehrende Kunsthistorikerin Tanja Schult lädt Augustin-Leser:innen zu einem Schreibwettbewerb ein. Ein Gespräch mit der Denkmalforscherin über die Hintergründe ihrer Arbeit und die Situation in Wien.

INTERVIEW: REINHOLD SCHACHNER
FOTO: MARIO LANG

Warum dockt eine Dozentin von der Universität Stockholm im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Wien an den Augustin an? Wären Sie Soziologin oder Kommunikationswissenschafterin, wäre es noch verständlich, Sie sind aber Kunsthistorikerin.
An einem meiner ersten Tage in Wien habe ich den Augustin geschenkt bekommen. Das war im Spätsommer. Als ich die Zeitung aufschlug, war ich begeistert. Da war ein langer Beitrag, der sich mit der fehlenden Repräsentation von Frauen im öffentlichen Raum beschäftigte. Meine Forschungsinteressen überschnitten sich mit dem, was ich in der Zeitung las. Daher habe ich dem Augustin eine Kolumne angeboten. Das erschien mir ein geeignetes Mittel, um auf mein Forschungsprojekt aufmerksam zu machen. Denn ja, ich bin keine Soziologin, will aber wissen, wie Menschen Denkmäler in ihrem Alltag wahrnehmen. Zu meiner großen Überraschung hat der Augustin prompt «Ja» gesagt (die Kolumne erscheint in jeder geraden Nummer unter dem Titel «denk mal», Anm.). Später kam dann die Idee mit dem Schreibwettbewerb hinzu. Wieder wart ihr offen. Das war ein Riesenglück!

Was sind Ihre Forschungsinteressen?
Zurzeit beschäftige ich mich in erster Linie mit Denkmälern – genauer: An wen oder was erinnern Denkmäler in der Demokratie? Zwangsläufig an andere – unter Anführungszeichen – Helden und Ereignisse als in Diktaturen. Und wie sehen diese Denkmäler aus?

Was bezwecken Sie mit dem Schreibwettbewerb?
Ein Schreibwettbewerb ist eine Möglichkeit, um zu erfahren, was Menschen Denkmäler bedeuten. Welche Rollen spielen sie in ihrem Alltag? Sind es bloß Orte, die als Treffpunkte dienen? Oder Orte, die verstören, zum Protest aufrufen? Oder sieht man sie im [Robert] Musil’schen Sinne gar nicht mehr? Kann ein Wettbewerb dann zum Neusehen einladen?
Der Wettbewerb ist auch eine Möglichkeit, um auf mein Forschungsprojekt aufmerksam zu machen. Ich suche Gesprächspartner:innen, möchte erfahren, was sie über ausgewählte Denkmäler denken. In der Kunstgeschichte werden selten Rezeptionsstudien durchgeführt. Wir Kunsthistoriker:innen sind, etwa im Gegensatz zu Soziolog:innen, nicht dafür ausgebildet. Viele scheuen sich auch davor, Kunsterfahrung messbar zu machen. Es besteht die Angst, missverstanden zu werden, als werte man Kunst im neoliberalen Sinne, wie: Die Kunst muss dieses und jenes leisten, um seine Existenz zu rechtfertigen. Darum geht es mir nicht. Mein Anliegen ist zu fragen «Was macht Kunst mit Menschen?». Lange waren es Historiker:innen, die über Denkmäler geschrieben haben. Ihnen geht es aber vor allem um die Entstehungsgeschichte. Die sieht man dem Denkmal aber selten an. Ein Denkmal muss im öffentlichen Raum als künstlerischer Ausdruck bestehen. Wenn es uns formal nicht anspricht, dann gucken wir nicht hin. Dann gelingt es dem Denkmal aber auch nicht, uns zum Nachdenken anzuregen.

Warum Wien?
Eine Bedingung meiner Universität war, mich im Ausland zu vernetzen. Ich habe mir Wien und insbesondere KÖR – Kunst im öffentlichen Raum Wien – ausgesucht, weil mir diese Organisation sehr progressiv und experimentierfreudig erschien. Wie ich geht KÖR in ihrer Arbeit von einem erweiterten Denkmalbegriff aus. Versteht unter Denkmal nicht nur einen Sockel mit einer figurativen Darstellung drauf. KÖR ist bereit, das Denkmal neu zu denken – formal, wie inhaltlich. KÖR fragt sich auch – wer oder was nicht oder nicht ausreichend repräsentiert ist, und versucht das dann aufzufangen. So zum Beispiel mit Isabella Kresses Projekt FÜR JOHANNA. Dabei wurde in allen 23 Bezirken eine Birke mit Widmung für Johanna Dohnal gepflanzt. Immer in einem Park, der einem Mann gewidmet ist. Eine subversive Unterwanderung des männlich geprägten Wiener Stadtraums – das gefällt mir.

Ist das Ihr Eindruck von Wien?
Ja, doch. Männer prägen das Stadtbild, ob in den Parks oder auf Denkmälern. Ich denke, Kresses Projekt versucht, dem etwas entgegenzusetzen. Das gelingt leider nicht wirklich, die Ehrung bleibt zu unscheinbar. Aber es ist ein Versuch. Das ist spannend, auch wenn es nicht ganz aufgeht.

Ich frage mich: Was macht der öffentliche Raum und seine Denkmäler mit uns? Was würde es einer Schwarzen Österreicherin bedeuten, mit ihren Kindern einem Denkmal zu begegnen, das eine Schwarze Person für etwas Geleistetes ehrt? Was macht das mit Menschen, wenn sie sich nirgends repräsentiert fühlen?
Zurzeit wird im und durch den öffentlichen Raum – im Denkmal, durch Straßennamen, ausverhandelt, wer wir als Gesellschaft sein wollen. Das ist wichtig. Aber auch für die Demokratie gilt: Wer Macht hat, setzt sich durch. Zwar gibt es in Kopenhagen ein Denkmal für Obdachlose, aber das ist die Ausnahme. Menschen ohne Einfluss haben es natürlich auch in der Demokratie schwer, Denkmäler zu erhalten. Organisationen wie KÖR können versuchen zum Sprachrohr für diejenigen zu werden, die keine Lobby haben. In der Demokratie sind die Machtverhältnisse anders verteilt, und das sollte sich auch in der Stadtlandschaft ausdrücken.

In der Wiener Zeitung plädierten Sie dafür, «dem Genre seine Wandelbarkeit zuzugestehen». Würden Sie bitte dieses Plädoyer auch den Augustin-Leser:innen näherbringen?
Denkmäler geben Aufschluss darüber, wer oder was zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer bestimmten Gruppe für wichtig gehalten wurde – und sich durchsetzen konnte. Unsere Gesellschaften sehen heute anders aus als die unserer Großeltern – wir haben andere Werte, stehen vor anderen Herausforderungen, wie dem Klimawandel. Aber der öffentliche Raum spiegelt das zu wenig wider. Warum sollte sich all das nicht im Denkmal zeigen? Aber dabei weiter an figurativen Darstellungen auf hohen Sockeln festzuhalten, erscheint vielen nicht mehr zeitgemäß. In den letzten vierzig Jahren hat sich sehr viel getan. Denkmäler sehen heute ganz anders aus. Manchen fällt es dennoch weiter schwer, bestimmte Werke als Denkmäler zu begreifen. Aber gerade dieser Wandel – nicht nur der Themen, sondern auch der Form ist wichtig, sagt etwas aus. Ich denke, insgesamt korrespondiert dieser Wandel mit dem, was Demokratie ausmacht: Ständig im Wandel zu sein. Das auszuhalten ist nicht immer leicht. Aber gerade in der Wandelbarkeit liegt die Chance auf Veränderung, für mehr Gleichberechtigung. Im Denkmal bedeutet das, dass Menschen mit verschiedensten Hintergründen endlich gesehen werden – Platz nehmen dürfen im öffentlichen Raum. 

Schreibwettbewerb «Wiens Denkmäler und ich»

Robert Musil postulierte vor fast 100 Jahren, dass nichts so unsichtbar sei wie Denkmäler. Aber ist dem wirklich so?
Wir wollen wissen, wie Sie Denkmäler in Wien wahrnehmen, was sie Ihnen bedeuten, welche Sie stören oder was für Denkmäler Sie sich wünschen würden.
Dazu rufen wir zu einem Schreibwettbewerb auf (Prosa oder Lyrik). Formale Vorgaben gibt es keine, doch sollten die Beiträge nicht länger als 7.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) sein.

Drei Beiträge werden mit jeweils 150 Euro prämiert (Drittmittelfinanzierung). Mitglieder der Jury sind die Künstlerin Rosa Andraschek, die 2021 das Ö1-Talentestipendium gewann, der aktuelle Elias-Canetti-Stipendiat und Augustin-Mitarbeiter Richard Schuberth und die Kunsthistorikerin Tanja Schult von der Universität Stockholm, zurzeit Gastforscherin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die sich vorbehält, Einsendungen anonym für Forschungszwecke zu verwenden.

Einreichungen per E-Mail an denkmal@augustin.or.at oder per Post an: Redaktion Augustin, Denkmal, Reinprechts­dorfer Straße 31, 1050 Wien. Die Texte werden der Jury ­anonymisiert übergeben.
Einsendeschluss: 20. Juni 2022
Die Gewinner:innen werden im August verständigt.

Mehr Info zu Tanja Schults Forschung und der Möglichkeit, an den Rezeptionsstudien teilzunehmen, unter:
www.su.se/english/profiles/tschu-1.223182#

Buchempfehlung:
Tanja Schult & Julia Lange (Hg.):
Was denkt das Denkmal? Eine Anthologie zur Denkmalkultur
Böhlau 2021
261 Seiten, 29 Euro

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