Bittere Not, rebellische Krafttun & lassen

Im August fand in Berlin der Vagabundenkongress 2020 statt. Wie vor hundert Jahren geht es auch heute um wirtschaftliche Not und politische Kultur in einem.

Text & Fotos: Andreas Pavlic, Eva Schörkhuber

Der Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg liegt hinter dem Bethaniendamm, wenige Schritte vom berühmten Rauch-Haus entfernt, dessen Besetzung 1971 von der Band Ton Steine Scherben nicht nur musikalisch unterstützt wurde. Der Platz ist langgezogen, von alten Platanen gesäumt. In der Mitte befindet sich ein Oval mit Steinstufen, eine Art Forum, das sich ausgezeichnet eignet, um im öffentlichen Raum die Tradition der Vagabundenkongresse aus den späten 1920er-Jahren wieder aufleben zu lassen.

Generalstreik ein Leben lang!

Vagabundieren ist ein uraltes Phänomen. Zur vorletzten Jahrhundertwende zogen Menschen aus unterschiedlichsten Gründen über die Landstraße: nomadische Minderheiten, Handwerksgesellen auf der Walz, jugendliche Wandervögel, Menschen, die aus Not bettelnd und auf der Suche nach Arbeit vagabundierten, oder jene, die ausstiegen und zu den Kreisen der Boheme gehörten. Neben den Roma, Sinti und Jenischen waren es die beiden letzteren, die im Fokus staatlicher Sanktionen standen. Die Vagabondage war aber nicht nur Anfeindungen ausgesetzt: Dichter_innen wie Hugo Sonnenschein huldigten ihrer rebellischen Kraft.
1927, als die wirtschaftliche Not Hunderttausende durchs Land trieb, gründete Gregor Gog die «Bruderschaft der Vagabunden», die auch eine Künstler_innengruppe umfasste und den Kunden, die Zeit- und Streitschrift von und für Vagabundierende, herausgab. 1929, auf dem 1. Vagabundenkongress in Stuttgart, verkündete Gog die Parole «Generalstreik ein Leben lang!», um gegen wirtschaftliche Ausbeutung und bürgerliche Wertvorstellungen zu protestieren. Der für 1930 in Wien geplante 2. Kongress wurde knapp vorher abgesagt. Unter anderem Hugo Sonnenschein rief anschließend zu einem Treffen 1933 in Kalkutta auf. Mit der Machtübernahme der NSDAP jedoch wurde es für Vagabundierende gefährlich, viele landeten als so genannte «Asoziale» in Arbeits- und Konzentrationslagern.
In späterer Zeit gab es immer wieder Initiativen, an die Vagabundenbewegung zu erinnern. Der Vagabundenkongress in Berlin knüpfte bewusst an diese Tradition an, zumal die Bewegung in den 80er-Jahren in Westberlin durch eine Ausstellung im Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz eine Wiederentdeckung erfuhr.

Vagabund_innen 2020.

Die Organisator_innen des «VAGA 2020», der von 21.–23. August in Berlin stattfand, waren mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert, die nur teilweise COVID-19 geschuldet waren: Das Grünflächenamt in Berlin untersagte die Veranstaltung. Angemeldet wurde schließlich eine Kundgebung am Mariannenplatz für Samstagnachmittag, die Veranstaltungen am Freitag und am Samstagabend wurden dezentral, in nahegelegenen selbstverwalteten Orten, abgehalten. Nach einem Community Dinner ging es zur Ausstellungseröffnung in die Galerie SO36, wo Siebdruckplakate, Collagen und T-Shirts gezeigt und verkauft wurden. Am Samstag wurde der Mariannenplatz mit Konzerten, Vorträgen, Workshops und einem Vagamusical bespielt, am Abend der angrenzende Wagenplatz mit einer Revue und einem Konzert. Am Sonntag trafen sich die Teilnehmer_innen zu einer Vollversammlung, bei der Forderungen von Wohnungslosen diskutiert wurden. Einige der Teilnehmer_innen, die auftraten, Workshops abhielten, moderierten und sich an der Organisation beteiligt hatten, leben aktuell ohne festen Wohnsitz in Berlin.

Übers eigene Leben bestimmen.

Eines der wichtigsten Anliegen, das hier zur Sprache kam, ist – nach Vorbild einer Initiative in Marseille – die Einrichtung von selbstverwalteten «Bagagerien»: Dabei handelt es sich um Räume, in denen obdach- oder wohnungslose Menschen für einen bestimmten Zeitraum ihr Gepäck unterbringen, duschen, Wäsche waschen und Computer mit Internet benutzen können. Das Hauptaugenmerk bei dieser Forderung liegt auf der Selbstverwaltung, um diese Räume selbstbestimmt und ohne Sanktionen gestalten und nutzen zu können. An Mitspracherecht bei Entscheidungen, wie mit Wohnungslosigkeit, mit freien Zugängen zu Wohnraum, Bildung, Nahrung umzugehen sei, mangelt es grundsätzlich: Zur Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe des Berliner Senats, die seit drei Jahren regelmäßig stattfindet, werden kaum obdachlose Menschen geladen.
Dass in großem Ausmaß über ihre Köpfe hinweg darüber bestimmt wird, wie und mit welchen Auflagen sie zu leben haben, ist für alle unerträglich. In einem O-Ton-Kommentar auf der Homepage des VAGA 2020 heißt es dann auch: «unsere kraft ist doch vielmehr, dass wir trotz ablehnung den kongress durchgeführt haben, die enorme vielfalt der teilnehmenden, die aktionen, die beteiligten orte und grüppchen, die zugereisten, das fette programm und die grossartige stimmung. das ist unsere kraft, widerspiegelt unsere freiheiten und widerspenstigkeit, unsere (auch politische) kultur, demonstriert unsere kreativität und phantasie und gibt mut für utopien.»

vaga2020.de

 

«Vagabondage findet auch im Kopf statt»

Tanja hat den Vagabundenkongress 2020 in Berlin mitorganisiert. Sie ist im Verein Unter Druck – Kultur von der Straße aktiv, der einen Treffpunkt für Wohnungslose und das Kunstkollektiv Czentrifuga betreibt.

Interview: Andreas Pavlic, Eva Schörkhuber

Wie funktioniert in Eurem Verein der Treffpunkt für Wohnungslose?
Tanja: Der Grundgedanke ist Hilfe zur Selbsthilfe. Es gibt eine wöchentliche Teamsitzung und prinzipiell läuft es partizipativ und selbstorganisiert. Im Konkreten gibt es eine Sozialberatung, einen Café­betrieb mit täglichem Essen, Wasch- und Duschmöglichkeiten und ein Kulturangebot.
Woher kam die Idee, einen Vagabunden­kongress zu veranstalten?
Tanja: Vor circa 4 Jahren haben wir uns bei Unter Druck überlegt, wie zwischen den beiden Bereichen, der Czentrifuga und der Wohnungslosentagesstätte, ein Transfer der künstlerischen Praxis hergestellt werden kann. Zwischen den beiden Einrichtungen gab es schon viele Berührungspunkte und soziokulturelle Projekte mit dem Ziel des Empowerments, aber das war uns nicht politisch genug. Beim Vagabundenkongress von Gregor Gog 1929 in Stuttgart war es auch so, dass neben den Vagabund_innen viele Künstler_innen und Bürgerliche teilgenommen haben.
Wir wollen dem Thema der Obdachlosigkeit das Stigma nehmen. Es kann jede und jeden treffen. Gerade in Berlin, wo die Gentrifizierung überhandnimmt, die Mietpreise nach oben geschnellt sind, trifft es ganz viele. Wobei Vagabondage nicht nur als körperliche Bewegungsform Sinn macht, sondern auch im Kopf.
Wie verliefen die Vorbereitungen?
Tanja: Die Organisation war gar nicht so einfach, da die Besucher_innen des Wohnungslosentreffpunkts sehr mobil sind. Ein Instrument, um gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit zu machen, ist, ein Zine zu machen. Es gab ein monatliches Redaktionstreffen, mit den gesammelten Beiträgen überlegten wir die Gestaltung des Heftes, es wurde gemeinsam produziert und zum Abschluss gab es eine Releaseparty.
Habt ihr im Vorfeld auch über mögliche Forderungen diskutiert?
Tanja: Wir wollten bewusst nichts vorwegnehmen, aber es ist ja so, dass man die Wohnungslosigkeit recht gut beenden könnte, wenn man die Menschen fragen würde, was sie brauchen und wollen. Ich weiß, es ist ein komplexes Thema, aber zum Beispiel erzählen uns Leute, sie können zur Kältehilfe nicht hingehen, da keine Hunde reindürfen, oder anderswo darf man als Frau nicht rein. Die andere Sache ist, dass der Kapitalismus Wohnungslosigkeit produziert – und natürlich gehört er abgeschafft. 

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