Blattern-Party am Bosporustun & lassen

Mary Montagu. Ihre erste Feindin fanden europäische Impfgegner_innen um 1720 in einer außergewöhnlichen Frau, die dazu beitrug, dass ­die Pocken heute Geschichte sind.

Text: Richard Schuberth
Illustration: Silke Müller

Die verpflichtende Einführung der Pockenimpfung durch die bayerische Regierung, so sagt man, sei einer der Auslöser des Tiroler Volksaufstandes von 1809 gewesen. Tirol befand sich zu dieser Zeit unter bayerischer Herrschaft, die war pronapoleonisch und versuchte das französische Vorbild an aufklärerischer Politik zu übertreffen. Ein Rädelsführer des Aufstandes, der Kapuzinerpater Joachim Haspinger, mehr religiöser Fundamentalist denn Befreiungstheologe, brachte die Abneigung der Tiroler_innen gegen den Fortschritt schön auf den Punkt. Mit der Pockenimpfung, meinte er, wolle man nicht nur «Gottes Plan durchkreuzen», sondern den Tiroler_innen auch «bayerisches Denken» einimpfen.
Mit der Injektion von aufgeklärter Vernunft hatte man in Großbritannien zur selben Zeit weniger Probleme. Die kursierte schon länger dort, und man war gegen sie weitgehend immun. Nein, viel konkretere Ängste plagten die Brit_innen: dass sie sich zur Gänze oder partiell in Kühe verwandeln könnten (ein gefundenes Fressen für die sehr produktiven Karikaturisten Englands). Gar nicht so abwegig, wurde doch bei der sogenannten Vakzination (von lat. vacca = Kuh) Sekret aus den Pockenpusteln von Rindern in den menschlichen Körper eingebracht. Der Arzt Edward Jenner wandte diese Methode erstmals 1796 an, nachdem er herausgefunden hatte, dass die für den Menschen ungefährlichen Kuhpocken auch gegen die «Blattern» immunisierten, die Europas Bevölkerung zu Hunderttausenden dahinrafften und die Gesichter der Überlebenden entstellten. Jenner wusste auch, wem er die Idee, Menschen mit der Pockenlymphe zu impfen, zu verdanken hatte: einer der in vielerlei Hinsicht bemerkenswertesten Frauen ihrer Zeit. 34 Jahre zuvor war sie in London gestorben.

Lady Montagu in Istanbul.

Im Alter von 15 Jahren hatte Mary Pierrepont (geb. 1689) bereits zwei Gedichtbände und einen Roman verfasst. Ihre umfassende Bildung hatte sie autodidaktisch erlangt, sie las sich quer durch die Bibliothek ihres Vaters, des Herzogs von Kingston. In London wird die geistreiche junge Dame nicht nur die Sensation des Hofs, sie nimmt auch am intellektuellen Leben teil und freundet sich mit John Gay (The Beggar’s Opera), dem gewitzten Poeten Alexander Pope und der Frühfeministin Mary Astell an.
1717 erfolgt das größte Abenteuer ihres Lebens. Ihr Mann Lord Montagu wird als britischer Konsul nach Istanbul berufen. Auf dem Weg dorthin verbringt sie auch Zeit in Wien, wo sie Freundschaft mit dem Prinzen Eugen schließt und in Briefen einige bissige Bemerkungen über das Phlegma der Wiener_innen hinterlässt. In Belgrad trinkt sie mit dem Gouverneur Ahmet Bey Rotwein, lästert mit ihm über den Katholizismus und lässt sich in die Besonderheiten morgenländischer Poesie einführen. Ihre Briefe aus dem Orient zählen zu den erstaunlichsten Dokumenten der Reiseliteratur. Wie kein_e Europäer_in zuvor und kaum eine_r danach dringt sie furchtlos und oft incognito in die entlegensten Sphären der osmanischen Gesellschaft ein und schildert sie weder mit rassistischer Abschätzigkeit noch romantischer Überhöhung, sondern mit selbstbewusster Nüchternheit. Sie überschreitet Kulturgrenzen, als würde sie die Salons wechseln.
In den Hamams, in die sie sich heimlich schleicht, bemerkt sie, dass die Damen dort frei von Pockennarben sind. Sie selbst hat ihren Bruder durch die Seuche verloren und ihr eigenes Antlitz ist von Narben gezeichnet. Wie so vielem geht sie mit ihrer ethnographischen Neugier auch diesem Geheimnis nach und erfährt, dass vor allem Griechinnen und Armenierinnen die Variolation (benannt nach dem Variolavirus) als Dienstleistung anbieten. Diese Praxis ist in Asien und Afrika seit Jahrhunderten verbreitet, und während sie in Europa wegen ihrer unstatthaften «Durchkreuzung von Gottes Plan» künftig vor allem von der Kirche bekämpft werden würde, unterlief sie in anderen Erdteilen als unspektakuläres Erfahrungswissen jegliche theologische Interpretation.
Verblüfft schreibt Lady Mary in einem Brief am 1. April 1717: «Die Menschen hier veranstalten Feste, und wenn sie sich treffen, meist so 15 oder 16 insgesamt, kommt eine alte Frau mit der besten Art von Pocken und öffnet ihnen mit einer Nadel die Venen.» Mary Montagu ist sofort entschlossen, ihren Kindern diese Krankheit zu ersparen. Ihr Gatte, derjenige Mensch, von dem in ihren Briefen am allerwenigsten die Rede ist, scheint von der Methode nicht überzeugt zu sein. So wartet sie seine nächste Dienstreise ab und lässt ihren Sohn erfolgreich «variolieren». Zurück in England nützt sie eine weitere Abwesenheit ihres Mannes, um nun ihre dreijährige Tochter immunisieren zu lassen. Dazu lädt sie als PR-Maßnahme Ärzte und Damen der Oberschicht ein.

Straferlass durch Impfung.

Die Propagierung der Variolation wird fortan Mary Montagus wichtigste Mission sein. Dabei lässt sie ihre Kontakte zum Hof spielen. Bevor König George I. zunächst seine Töchter der Prozedur unterzieht (die männliche Erblinie muss erhalten bleiben), lässt er sie 1721 an sechs Sträflingen testen, mit dem Versprechen der Amnestie, für den Fall ihres Überlebens. Diese kommen frei und werden sich nie wieder mit den Pocken infizieren. Desgleichen seine Töchter und auch der Prince of Wales, der infolge des Aufschlags eines Cricketballs auf seinem Kopf das Zeitliche segnen wird.
Nicht viele Mediziner lassen sich von dieser ungewöhnlichen Methode überzeugen. Die meisten diffamieren sie als Quacksalberei. Nichts anderes war deren eigene Praxis zu dieser Zeit, zumal die Medizin als Wissenschaft erst ihrer großen Fortschritte harrte. Und Mary Montagu zeigt sich unzufrieden mit den meisten Doktoren, die sie für die Methode gewinnen kann. Denn erstens fügen sie ihren Impflingen viel tiefere Wunden zu, als es im Orient üblich ist (wahrscheinlich um den Akt zu dramatisieren und das Honorar hochzutreiben), und zweitens wollen sie auf ihre gewohnten Allheilmittel wie Aderlass, Brechkuren und Kaltwasserbäder nicht verzichten, die sozusagen den damaligen «schulmedizinischen Standard» darstellen. So nimmt Mary Montagu die Sache in eigene Hände und führt selbst Variolationen durch. Diese sind freilich nicht unriskant und führen bis zu Dr. Jenners Methode immer wieder zum Tod. Natürlich kann sie sich des Hasses der Ärzte und Reverends sicher sein, von den Impfgegner_innen ihrer Zeit ganz zu schweigen, die oft vor ihrem Haus demonstrieren und sie mit faulem Obst und Gemüse bewerfen. Und natürlich bricht hier der Hass einer männlich dominierten Ordnung gegen eine Frau durch, die diese zu selbstbewusst in Frage stellt.
Mary Montagu mag es in ihrem Feminismus kraft ihres hohen gesellschaftlichen Status bestimmt leichter gehabt haben als Frauen unterer Klassen, und zudem wusste man auf der Insel eccentrics stets mehr zu schätzen als auf dem Festland, trotzdem nahmen sich wenige ihrer Schicht und ihrer Zeit so viel heraus wie sie. In jungen Jahren hatte sie keck geschrieben: «Männliche Dummheit bereitet mir größtes Vergnügen, Gott sei Dank ist das eine schier unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung.» Der Spaß mag ihr bisweilen vergangen sein. Unverdrossen setzte sie sich weiter über die Konventionen hinweg. 1738 verließ sie ihren Mann wegen ihres 23 Jahre jüngeren bisexuellen Liebhabers Francesco Algarotti und ließ sich später mit ihrem nächsten Freund Ugo Palazzi auf einem Bauernhof bei Brescia nieder, wo sie fortan Seidenraupen züchtete, Tee pflanzte und ein ruhiges, selbstgenügsames Leben führte. Als sie 1762 in London starb, sollen ihre letzten Worte «Es war alles sehr interessant» gewesen sein.
Bis zu Dr. Jenners Initiative wurde die Pockenschutzimpfung in Großbritannien als Scharlatanerie abgetan und geriet weitgehend in Vergessenheit. 1853 beschloss das britische Parlament die Impfpflicht, 46 Jahre, nachdem das Königreich Bayern sie als erster Staat der Welt eingeführt hatte. 1980 erklärte die WHO die Pocken als erste Krankheit weltweit für ausgerottet.

Mary Wortley Montagu:
Briefe aus dem Orient
Promedia 2006

Richard Schuberth:
Die Reisen der Lady Mary Montagu
In: Rost und Säure, Bd. 3, Drava 2013