Briefe an Dr. Sommertun & lassen

Sehr verehrter Herr Dr. Sommer,

am 13. März versuchte eine Gruppe von Obdachlosen und AUGUSTIN-Verkäufern, in mein Büro vorzudringen, um mich von ihrer Forderung „Freie Fahrt für Obdachlose“ zu überzeugen. Mein Mitarbeiter konnte im Roten Salon, dessen sich die Gruppe bemächtigte, nur mühsam eine Eskalation verhindern. Vergebens machte er den Demonstranten klar, dass ich nicht in Wien sei und die Gruppe deshalb nicht empfangen könne. Die Versammelten warfen mir vor, kein Herz für Obdachlose zu haben.

Bevor ich etwas genauer darauf eingehe, welche Leistungen die Stadt Wien gegenüber obdachlosen Menschen in unserer Heimatstadt gerade in letzter Zeit erbracht hat, darf ich schon darauf hinweisen, dass erst kürzlich in Wien die Konferenz der Vereinigung der Europäischen Nationalen Wohnungslosen-Hilfswerke stattgefunden hat, deren Vorsitzender zu Recht der Stadt Wien ein ganz ausgezeichnetes Zeugnis im Kampf gegen die Obdachlosigkeit ausgestellt hat.

Denn ganz im Gegensatz zu Behauptungen diverser Sozialarbeiter hat die Stadt Wien aufgrund unserer Maßnahmen nicht mehr mit dem Problem steigender Obdachlosenzahlen zu kämpfen. Es wurde nicht nur ein Stopp der Obdachlosigkeit erreicht, sondern im Laufe der vergangenen zehn Jahre sogar ein beachtlicher Rückgang der Anzahl der betroffenen Obdachlosen Menschen in Wien. Seit Inangriffnahme des Stufenplans der Stadt Wien zur Reintegration von Obdachlosen im Jahre 1989 sind in Wien auch während der kalten Jahreszeit kaum Engpässe bei der Unterbringung von Obdachlosen mehr eingetreten. 1993 wurde erstmals eine wissenschaftliche Untersuchung zur sozialen Situation von Akutobdachlosen in Wien durchgeführt, deren wichtigstes Erkenntnis die Tatsache war, dass auch im damaligen Zeitpunkt das Problem der Obdachlosigkeit in Wien ganz im Unterschied zu anderen Städten, in denen bereits ein Point of No Return überschritten war, das Problem der Obdachlosigkeit durchaus überblickbar war.

Das Ergebnis dieser Studie, wonach es 1993 in Wien noch 4800 bis 5000 Obdachlose gab, von denen rund 2400 Betroffene in öffentlichen und privaten Obdachloseneinrichtungen untergebracht waren, war der Stadtverwaltung ein Ansporn, die Hilfssysteme noch weiter zu verbessern und die Anzahl der Betroffenen zu verringern. Seit dieser Zeit wurde die Anzahl der zur Verfügung stehenden Betreuungsplätze auf rund 3330 erhöht, wo hingegen die Anzahl der Betroffenen nach aktuellen Schätzungen von Experten auf zirka 3800 bis 4000 zurückgegangen ist. Nach Schätzungen der Expertenrunde der Wiener Obdachlosenhilfe gibt es in Wien derzeit zirka 800 Menschen, die als Obdachlose tatsächlich auf der Straße leben und trotz freier Kapazitäten Unterbringungsangebote nicht in Anspruch nehmen.

Die Forderung „Freie Fahrt für Obdachlose“ führt sich also von selbst ad absurdum, weil es in absehbarer Zeit keine Obdachlosen mehr gibt in unserer Stadt. Das ist die Realität; aber verzweifelt bemühe ich mich, sie zu vermitteln. Man glaubt mir einfach nicht. Lieber Dr. Sommer, ich brauche dringend Ihren Rat: Was kann ich tun, um die Zerrbilder von einem angeblichen Obdachlosenproblem in unserer Stadt richtig zu stellen?

Dr. Michael Häupl,

Bürgermeister der Stadt Wien

Sehr verehrter Herr Bürgermeister,

trommeln Sie die 800 verbliebenen Obdachlosen zusammen, stellen Sie ihnen zehn ausgediente Garnituren der Linie D zur Verfügung, lassen Sie diese Garnituren rund um die Uhr zwischen Südbahnhof und Nußdorf verkehren, schmücken Sie diese Garnituren mit den Transparenten „Demo Line – gewidmet von der MA 2412“ und „Linie der freien Fahrt – Wien ist anders“, versorgen Sie die Passagiere täglich mit den Essensüberresten der Rathauskantine, fahren Sie selber gelegentlich mit einer dieser Garnituren zum Rathaus (Fototermin!), schaufeln Sie am 24. Dezember demonstrativ den Schnee von den Schienen (Fototermin!), damit der Sandlernostalgielinie freie Fahrt gesichert ist, und erklären Sie dem Vorsitzenden der Vereinigung der Europäischen Nationalen Wohnungslosen-Hilfswerke, dass es sich bei den 300 AUGUSTIN-VerkäuferInnen um verkleidete Ethnologie-StudentInnen handelt, die Feldforschung zum Thema „Pathologisches Helfersyndrom nach der Lösung der sozialen Frage – Überleben irrationaler karitativer Verhaltensweisen in der postmateriellen Epoche“ betreiben.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Sommer

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