Brot und Rosentun & lassen

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Einen Korb voller Brot brachte Elisabeth die Stiegen hinunter. Heimlich. Es war ihr von der Herrschaft verboten worden, Leuten in sozialer Not Essen zu bringen. Sie trat in den Hof, blickte vorsichtig nach allen Seiten und wollte durch das Tor rasch ins Freie entschwinden. Da sprangen zwei Wachen aus der Dunkelheit hervor und hielten sie auf. Die Soldaten zwangen Elisabeth, das Tuch über dem Brot zu lüften, um zu kontrollieren, was die junge Frau da verdächtig mit sich trug. Doch der Korb war voller Rosen. Elisabeth durfte weitergehen. Das Brot kam zu den Hungernden. Seit dieser Geschichte aus der mittelalterlichen Grafschaft Thüringen sind Brot und Rosen miteinander verbunden. In den USA organisierten sich vor 100 Jahren Näherinnen mit dem Ruf «Wir brauchen Brot, aber wir brauchen die Rosen dazu». 20.000 Textilarbeiterinnen kämpften in Massachusetts für besseren Lohn und ein gutes Leben. Brot steht für die existenziellen Lebensmittel, für Materielles, für Existenz­sicherung, Einkommen, leistbares Wohnen, Arbeit. Die Rosen weisen auf die Lebensmittel, die man nicht essen kann, aber trotzdem zum Leben braucht – wie Anerkennung, Musik, Freundschaften oder Vertrauen.
Darum geht es auch heute. Hunderttausende sorgen sich um ihre Jobs, Hunderttausende kommen mit dem schlechten Lohn nicht über die Runden. Wohnen ist unleistbar, und das soziale Netz der Mindestsicherung wurde zerschnitten. Das ist wie bei Elisabeth von Thüringen, der von der Herrschaft verboten wurde, Brot zu bringen. Und die Corona-Krise macht sichtbar, unter welchen Folgen Menschen am meisten leiden, wenn sie der Rosen beraubt sind: Einsamkeit, Schlafprobleme, Erschöpfung. Die Rosen machen unsere Welt lebendig. Sie gestalten unseren Alltag der Weltbeziehungen. Einsamkeit bedeutet: sich von der Welt getrennt fühlen. Die Welt gibt es da draußen, aber ich bin nicht mehr mittendrin. Die Welt mag tönend, farbig, warm und frisch sein. Meine Welt ist es nicht. Die Welt ist fremd geworden zu einem selbst. Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum. Vertrauen heißt, sich der Welt zugewandt zu fühlen. «Den Meisten kann man vertrauen. Stimmt das?» Am wenigsten «Ja» darauf sagen können diejenigen, die schlechte Jobs haben, die unter der Armutsgrenze leben, die am sozialen Rand stehen. Wir brauchen Brot, aber gebt die Rosen dazu!
Einander zu erleben als welche, die Einfluss haben, deren Handeln Sinn ergibt, wird als «Selbstwirksamkeit» bezeichnet. Die Welt bekommt einen Sinn. Mit Ohnmacht vergeht dieser «Weltsinn». Auch hier sind die Rosen nicht gleich verteilt. Je geringer der soziale Status, desto eher erleben die Betroffenen Situationen der Ohnmacht, der Einsamkeit und der Beschämung. Achtung und Wertschätzung bedeuten, in der Welt gesehen zu werden. Um diese Grenzen der Anerkennung wurden in der Geschichte des Sozialstaats zentrale Auseinandersetzungen geführt. Die Zeit nach Corona hat schon jetzt begonnen. Die Landgrafen von heute versuchen, das Arbeitslosengeld zu kürzen, Notstandshilfe abzuschaffen, in die soziale Sicherung einzuschneiden, sozialen Fortschritt zu blockieren. Elisabeth geht mit ihrem Korb weiter. Und die Näherinnen aus Massachusetts rufen: «Wir brauchen Brot, aber wir brauchen die Rosen dazu!»