Bruderkriege und behinderte MenschenDichter Innenteil

Strom der Vielfalt (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen, 412. Folge

Herr Groll und der Dozent saßen auf den Stufen des kleinen Leuchtturms am östlichen Spitz der Donauinsel. Linker Hand zweigte die Einfahrt in den Ölhafen ab, auch der Beginn des Donau-Oder-Kanals war zu sehen. Alte Pappeln markierten den donauseitigen Teil der Lobau. Am anderen Ufer der Donau reihten sich Fischerhütten aneinander. Auf dem Treppelweg parkten etliche SUVs. Der Dozent und Groll waren in ein Gespräch vertieft, hin und wieder nippten sie an kleinen Bierflaschen.

«Kriege sind eine Katastrophe, aber Bruderkriege sind ein Weltuntergang», sagte Herr Groll. «Denken Sie nur an Jugoslawien. Alle waren sie untereinander verschwägert und in allen Graden verwandt. Serben, Kroaten, Montenegriner, Kosovaren, Slowenen, Mazedonier, Bosnier und so fort. Oft erfuhren die Brautpaare erst bei der Hochzeitsvorbereitung am Standesamt, aus welcher Teilrepublik die künftige Gattin oder der künftige Ehemann stammten. Niemand hätte sich vorstellen können, dass entlang von längst in die Geschichte abgesunkenen Nationalitäten neue Kriege und Bestialitäten erwachsen würden, aber es kam bekanntlich anders. Und es blieb nicht bei einem Krieg, einer atavistischen Aufwallung, nein, es waren deren fünf. Fünf Kriege mit hunderttausenden Toten und noch mehr Verletzten und an Leib und Seele Verstümmelten und einer Generation, die von diesem Trauma nie loskommen wird und dieser Generation werden noch andere folgen. Die Europäische Union wird für die südlichen und westlichen Balkanstaaten vor allen anderen Dingen – wirtschaftliche Entwicklung, Lebenschancen für die Jungen, rechtsstaatliche Strukturen – ein Sicherheitsnetz sein. Das einzig vorstellbare Sicherheitsnetz, denn dass die stolzen südslawischen Nationalstaaten dem Krieg als Mittel der Politik abschwören, nimmt ihnen niemand mehr ab.»

«Wie ist eigentlich die Lage behinderter Menschen in der Ukraine?», verlagerte der Dozent das Gespräch.

«Schlecht», antwortete Groll. «Und durch den Krieg wird das Elend noch potenziert. Zahlen aus 2018 besagen, dass rund drei Millionen Menschen behindert sind, darunter zehn Prozent Kinder. Die Ukraine hat zwar die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und 2012 einen ‹Nationalen Aktionsplan› zur Umsetzung der Konvention in der Praxis verabschiedet, allerdings ist man dabei über bescheidene Anfänge nicht herausgekommen. Die Geldleistungen sind lächerlich gering, Diskriminierung findet in allen Bereichen statt. Die Abschiebung behinderter Kinder in desolate Großheime ist die Regel, Inklusion im Bildungswesen bleibt ein hehres Ziel – in den letzten Jahren hat sich da trotz großzügiger EU-Mittel nichts geändert. Ich komplettiere das triste Bild und erwähne das verbreitete Fehlen von Barrierefreiheit, einen ausschließenden Arbeitsmarkt und, sieht man von einem Moderator einer Fernsehsendung ab, eine kaum vorhandene mediale und politische Repräsentation behinderter Menschen. Die Sozialleistungen für behinderte Menschen sind viel zu gering, der Zugang zu qualitativ hochwertigen Gesundheitsleistungen ist nicht gegeben, der Gesundheitszustand behinderter Menschen ist dementsprechend schlecht. Fazit: Behinderte Menschen leben in der Ukraine abgeschottet, haben kaum Zugang zu Bildung und bekommen keine oder keine adäquate Arbeit.» Groll nahm einen Schluck aus der Bierflasche.

«Und wie ist die Lage behinderter Menschen in Russland?», fragte der Dozent weiter.

«Genauso, wenn nicht schlimmer. Bruderstaaten eben.»

«Bruderstaaten. Dieses Wort sollte man für einige Zeit aus dem Wortschatz streichen.»

Groll setzte die Flasche ab. «Ein Flächenkrieg mit modernen konventionellen Waffen unter einstigen Bruderstaaten ist eine einzige Katastrophe. Im Fernsehen sah ich eine fünfundachtzigjährige gehbehinderte Frau, sie sagte, im Zweiten Weltkrieg habe man gewusst, gegen wen man kämpfe, die Ukrainer und ihre russischen Brüder gegen die deutschen Faschisten. Und jetzt schmeißen uns die Brüder Bomben auf die Häuser und erschießen unsere Jugend. Ihr Gesicht drückte Fassungslosigkeit und Zorn aus. Vor dieser Frau sollte Herr Putin sich rechtfertigen müssen! Ihr müsste er in die Augen schauen!»

Ein Motorgüterschiff mit zwei tiefliegenden Bargen rauschte an den beiden talwärts vorbei.

«Die Mekhanik Golovatskiy», kommentierte Groll. «Für die sowjetische Schifffahrt in der Schiffswerft Linz in den 70ern erbaut. Seit 1990 für den Bruderstaat, für die Ukraine, im Einsatz.»