Bunte Ameisen im Gemeindebauvorstadt

Ameisenstraßen als probates Mittel, damit Nachbar_innen niederschwellig zueinander Kontakt aufnehmen können!? Veronika Krenn ging dieser These nach und traf dabei auf eine Künstlerin, die am Aufkommen der Hautflügler nicht ganz schuldlos ist.

«Entschuldigen Sie, wo kommen denn diese Ameisen im Hof her. Ich wundere mich schon die ganze Zeit …» Ehe man sich versieht, ist man in einer regen Unterhaltung mit einer alleinerziehenden Mutter und ihrer 15-jährigen Tochter. Beide hocken sich kurzerhand auf den Boden und formen mit 14 Millimeter großen Tierchen aus biologisch abbaubarem Naturkunststoff und Fischleim abstrakte Figuren am Boden. Die auf Mais-Basis erzeugten Ameisen breiten sich schon am Spielplatz aus, eine meterlange Ameisenstraßen ziert den Platz. Viele verschiedene Hände haben dafür zusammengearbeitet. Alpaslan, ein aufgeweckter neunjähriger Bursche, bringt es auf den Punkt: «Reden und arbeiten, das mag ich am liebsten!»
Julia Bugram ist eine Künstlerin, die sich im Rahmen eines Wissenschaftsstipendiums vor zwei Jahren mit dem Sandleitenhof auseinandergesetzt hat, einem Gemeindebau im 16. Wiener Bezirk. Aus ihren Recherchen hatte sie damals Schlüsselthemen extrahiert: Kommunikationsdefizite und Isolation. «Bunte Ameisen im Gemeindebau aufkleben», lacht die Künstlerin, sodass ihre silbrig-bläulichen Locken schwingen, «ist so absurd, dass man neugierig werden muss und darüber ins Reden kommt.» Im Rahmen von SOHO in Ottakring wurde das partizipative Kunstprojekt im Jahr 2018 erstmals umgesetzt.

Die Ameisen wandern nach Hernals.

Eine Förderung erlaubt nun, die Wirkung dieser bunten Ameisen auf drei weitere dezentrale Flächenbezirke auszuweiten. Im Juni dieses Jahres machten sie in Floridsdorf Station, im Schlingerhof, einem 400-Wohnungen-Gemeindebau aus den 1920er-Jahren. Im August wuselten sie durch den brütend heißen Gemeindebau aus den 1980er-Jahren auf den Ankerbrotgründen, in der Absberggasse 25. Im September ziehen sie nun nach Hernals weiter, in den denkmalgeschützten Ernst-Bevin-Hof. Der Hof mit dem alten Baumbestand beherberge rund 200 Wohnungen und sei daher etwas kleiner als die beiden anderen in Floridsdorf und Favoriten, erzählt Julia Bugram. Er soll auch schon gut mit dem Fair-Play-Team 17 und einer Parkbetreuung bespielt sein. Diese sind im öffentlichen Raum für die Leute da, über Kulturen hinweg, und sie vermitteln, suchen das Gespräch. Das Ameisen-Team will sich hier einklinken, um über das gemeinsame Verlegen von Ameisenstraßen durch den Hof besonders niederschwellig Kontakt aufzunehmen. Barbara Schiefer, eine der drei Fair-Player_innen im 17. Bezirk, erzählt, dass Kinder und Jugendliche seit den vergangenen Jahren oftmals vom Fortnite-Gaming davon abgehalten werden, die Wohnungen zu verlassen. Bunte Ameisen auf den Wegen sind ein Mittel, ihre Aufmerksamkeit potenziell zu erregen. Wenn «übers Reden die Leute zusammenkommen», wie ein Sprichwort sagt, dann hat auch schweigend nebeneinander Ameisenkleben eine höchst verbindende Wirkung. Denn über diese einfache Tätigkeit können sich die interessantesten Gespräche entwickeln.

Spuren im öffentlichen Raum.

In Floridsdorf, erzählt Julia Bugram, sei eine Frau im Hof gesessen, die zuerst der Sache sehr skeptisch gegenüber gestanden sei. Nach und nach sei sie aber, durchs Zuschauen, neugierig geworden und habe sich von einer Skeptikerin zu einem Fan gewandelt, der anderen begeistert davon erzählt habe. Ihre Erkenntnis aus diesen ersten Stationen ihres Projekts ist, dass die Menschen enormen Redebedarf hätten und dass man über ganz triviale Dinge leichter in Kontakt käme: «Die Leute wollen gehört werden», sagt sie. Ihr Zugang zu partizipativer Kunst ist dabei: «Gemeinsam den öffentlichen Raum zu erobern und zumindest temporäre Spuren zu hinterlassen, die die Leute zusammenführen und ins Gespräch bringen.»
Jeder Bezirk und jeder Gemeindebau hat eine ganz spezifische Bevölkerungsstruktur, die man gleich spürt, wenn man das «Achtung: Ameisen!»-Projekt vor Ort besucht. Während im Schlingerhof die Altersstruktur deutlich höher ist und auch viele Pensionist_innen hier leben, sind es in den Ankerbrotgründen deutlich jüngere Leute. Kinderreiche Familien mit dem unterschiedlichsten kulturellen Hintergrund, auch viele Frauen mit Kopftüchern begegnen einem dort.
Stefan Karasek, von Wohnpartner – einer Einrichtung der Stadt Wien speziell für Gemeindebaubewohner_innen – klärt auf: Im Schlingerhof im 21. Bezirk seien relativ kleine Wohnungen gebaut worden, in den 1920er-Jahren des Roten Wiens. Jetzt seien das vorwiegend Singlehaushalte, mit wenigen Kindern, von der Altersstruktur bei 50 plus. Mangelnder Kontakt untereinander sei hier ein Thema, ebenso Bedarf, den Austausch zwischen den Generationen anzuregen. «Das Ameisen-Projekt», erzählt Karasek, «das auch beim örtlichen Kindergarten angedockt hat, sollte da ansetzen.» Denn Wohnpartner versuche die Nachbarschaft und die Gemeinschaft zu stärken – und bei Konflikten zu vermitteln. «Eine gemeinsame Lösung soll gefunden werden», sagt er. «Am Schlingerhof sind es weniger Konflikte, die dort eher harmlos sind, sondern ein Bedürfnis nach Austausch.»
Julia Bugram hat, um auch bei den älteren Leuten anzudocken, jeweils ortsspezifische Schnitzeljagden entwickelt, was vor allem bei Senior_innen auf äußerst fruchtbaren Boden gefallen ist. Damen des örtlichen Pensionist_innen-Clubs, die nach geistigen Herausforderungen förmlich lechzten, waren hocherfreut, sich etwa an Politiker_innen-Zitaten abarbeiten zu dürfen. Manche der älteren Personen, erzählt die Künstlerin, haben eigentlich nur reden wollen, was in diesem Projekt natürlich genauso erwünscht ist.

Ankerbrotgründe.

Flaniert man, im Schlepptau mit den Ameisen von Julia Bugram, durch den ausladenden Gemeindebau mit den großen, grünen Höfen und den hübschen kleinen Gärten – auch Gemeinschaftsgärten und Hochbeeten –, hat man das Gefühl, dass dieser bunte Kulturenmix wunderbar funktioniert. Junge Frauen haben kaum Hemmungen, sich mit ihren Kindern am Boden meditativ dem Ameisen-Kleben hinzugeben. Dabei erzählen sie von ihrem Leben, von ihrer Arbeit und ihren Kindern. Die vierjährige Tochter, die im Gegensatz zu ihrer Mutter noch kein Deutsch spricht, plaudert fröhlich in türkischer Sprache. Man lernt Familien mit sieben Kindern kennen, wo die 16-jährige Schwester das Baby betreut. Währenddessen die acht- und neunjährigen Schwestern Jackson Pollocks Spritztechnik mit Fischleim und Ameisen testen.
Bis auf einen wütenden Hausmeister, der vor lauter Regeln, die man ihm selbst auferlegt, sich über die Freiheit erzürnt, die diesen jungen Leuten da ameisenkleberisch zugestanden wird, gibt es kaum Zwischenfälle.
Trügt der Frieden? Ich komme mit einem jungen Sozialarbeiter ins Gespräch, der selbst im zehnten Bezirk aufgewachsen ist und seit einigen Jahren im Sozialbereich tätig ist. Sein Eindruck ist, dass sich im 10. Bezirk bei vielen aus der älteren, alteingesessenen Bevölkerung eine Angst vor dem sozialen Abstieg breitgemacht habe. Migrant_innen hingegen seien froh und glücklich darüber, leistbaren Wohnraum mit schönen Grünflächen zur Verfügung zu haben.
Über den Tellerrand zu blicken, anderen wertschätzend und auf Augenhöhe zu begegnen, ist wohl noch länger eine Herausforderung für viele. Aus Erfahrung weiß er, dass Menschen oft Bilder aus einschlägigen Medien im Kopf hätten, die ihnen Angst vor Fremden machen. «Das Ameisenprojekt schafft da erstaunlich schnell Brücken», sagt er, «wirkt als Katalysator.» Denn das Wichtigste sei, einander zu begegnen. 

Zwischen 2. und 27. September an zehn Terminen im Ernst-Bevin-Hof, 17., Andergasse 12
ameisen.juliabugram.com