Buntes PapierArtistin

«Wien braucht Menschen wie mich» – Lym Moreno in ihrem Atelier (Foto: © Carolina Frank)

Knallbunte Figuren, Collagen und Riesenblumen: Lym Moreno arbeitet mit Papier. Ihr künstlerisches Zuhause hat sie am Karibischen Meer genauso wie am Donaukanal gefunden.

An der Wand hängen Collagen-Gesichter. Monster aus Hamburger-Boxen stehen auf ­einem Tischchen, daneben liegt ein Buch, dessen Seiten sich dreidimensional entfalten. Riesenhafte Blumen. Menschelnde Tiere, auf Skateboard-Unter­seiten gedruckt. Überall Farbe, alles knallbunt, auch das Shirt der Künstlerin und ihre Fingernägel. Lym Moreno macht Papierkunst: «Zwei- und dreidimensional, figurativ und abstrakt.» Aufgewachsen in Caracas, Venezuela, lebt sie seit 2010 in Wien. Im WUK im 9. Bezirk hat sie ein Abeitszimmer für sich allein.

Alles nicht so schlimm

Der Himmel über dem WUK ist strahlend blau, die Sanierungsarbeiten gehen dem Ende zu. Im Severin­trakt, Stiege 4, hatte das Mammutprojekt begonnen. Von Oktober 2021 bis August 2022 waren alle Künstler:innen, die hier ihre Ateliers haben, ausquartiert. «Wir hatten ein Ausweichquartier in St. Marx», erzählt Lym Moreno. «Ich hatte einen sehr kleinen Raum mit Fenster zur Straße. Im Sommer habe ich das immer offen gelassen, und die Leute sind zu mir gekommen, um alles Mögliche zu fragen: Wo ist ein Supermarkt? Kannst du mir helfen, dies und das zu finden? Ich war sozusagen das Infobüro.» Lym ­Moreno lacht laut. Sie gehört zum WUK, und das WUK gehört zu ihr.
Aufgewachsen ist Moreno in ­Caracas, der Hauptstadt von Venezuela. ­Caracas liegt im Norden des Landes, wenige Kilo­meter vom Karibischen Meer entfernt. «Die Kultur der Stadt beruht auf der kari­bischen Kultur. Die Straßen sind leben­diger, du findest immer lustige ­Leute, mit denen du ins Gespräch kommen kannst. Und das Wetter ist ganz anders!» In Cara­cas hat Moreno Design und Kunst studiert. Hier hat sie begonnen, Street Art zu malen. Von hier aus ist sie nach Wien gezogen. «Ich wollte immer mal in Europa leben, aber ich habe eher an Berlin oder Barcelona gedacht. Im Sommer 2005 kam ich dann zum ersten Mal nach Wien. Es hat mir gut gefallen, es war etwas total anderes als das, wo ich herkomme.» Von nun an kam Moreno einmal im Jahr zu Besuch: «Immer im Sommer, als Touristin.» Der Umzug im Herbst 2010 war eine andere Sache. «Es war kalt, grau, ich konnte die Sprache nicht. Und am Anfang macht man immer den gleichen Fehler: Man vergleicht. In Venezuela macht man das nicht so, in Venezuela ist das ganz anders … das führt zu nichts!» Lachen. «Erst als ich nach einem Jahr einigermaßen Deutsch sprechen konnte, habe ich begonnen, die Kultur zu verstehen. Ach, so ist das hier! Alles gar nicht so schlimm.»

Keine Materialmüdigkeit

Ein buntes Tier, die Zähne zum Lachen gefletscht, rot oder rosa leuchtende Wangen, ­klare Konturen, kurze Striche als Andeutung eines Fells. Gezeichnet: Mosta. Mosta ist kurz für «mostaza», auf Spanisch «Senf». «Das Wort hat mir einfach gefallen, ich habe die ersten paar Buchstaben davon genommen und es zu meinem Pseudonym gemacht», sagt Moreno. «Ich war jung.» Vor einigen Jahren hat sie neben den gemalten Tiercharakteren begonnen, Plakate auf der Straße zu sammeln und daraus Collagen zu kleben. «Auf ­diese zwei Arten kann man meine Kunst auf der Straße ­finden. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich in den letzten ­Jahren nicht so aktiv war.» Auf die Frage, ob sie in den Straßen Wiens im Auftrag oder auf Eigeninitiative malt und klebt, lacht ­Moreno wieder auf: «Na ja, wir sind in Europa – entweder es ist ein Auftrag oder es ist ille­gal.» Die sogenannten «Walls of Fame», die ­legal gestaltbaren Wände in Wien, nütze sie schon immer wieder. «Aber es ist klar, heute malst du, und morgen ist es vielleicht schon von wem anderen übermalt.»
Im Atelier arbeitet Lym Moreno mit Papier. Papier ist ihr Material, länger als es ihr selbst klar war. «Es ist Teil der Familiengeschichte», erzählt ­Moreno. «Mein Großvater hatte eine ­Druckerei. Ich bin zwischen Druckmaschinen und grafischer Gestaltung aufgewachsen. Überall war Papier. Mit meiner Oma habe ich viel gebastelt. Wenn ich die Druckerei besucht habe, war mein liebstes ­Objekt eine Vitrine, in der Muster von allem drin waren, was mein Großvater mit seiner Heidelberger Letterpress drucken konnte: Visitenkarten, Kalender, Rechnungsbücher, alle Arten von Karten. Diese Vitrine wollte ich immer putzen und neu gestalten, das war als Kind meine liebste Beschäftigung.» Beruflich hatte Lym Moreno vorerst ­andere Ambi­tionen, aber als sie, inzwischen Teenagerin, einen Freund fand, der Grafikdesign studierte, war die Faszination wieder da. «Ich habe das dann auch gemacht, und später noch ein Studium der Bildenden Kunst angehängt.» Dort kam sie zum ­Papier zurück. «Am Ende meines Studiums an der Kunstakademie habe ich begonnen, aus Papier Dioramen zu ­bauen, kleine Szenarien in Kisten. Und auf einmal wurde mir diese Verbindung bewusst: Das Material war mir nicht fremd, es war von der Kindheit an immer dagewesen.» Lym Moreno hat nie mehr aufgehört, mit Papier zu arbeiten, entwickelt ihre Kunst vom Zwei- ins Dreidimensionale und zurück. «Ich werde nicht müde vom Material.»

Etwas Kleines, Wichtiges

Die obligatorische Frage: Wie lebt man von Kunst? «Gut», sagt – oder lacht – Moreno. «Ich verkaufe Kunst, ich mache Aufträge und ich unterrichte. Das ist Teil meines Einkommens, aber auch Teil meiner künstlerischen Praxis. Ich brauche den Kontakt zu Menschen.» In ihrer künstlerischen Arbeit, sagt Moreno, beschäftige sie sich nicht direkt mit gesellschaftlichen Themen. «Aber indirekt! Als Pädagogin ­mache ich so viele Erfahrungen in so schönen Projekten mit den unterschiedlichsten Gruppen. Für viele Künstler:innen ist es wichtig, mit ihrer Kunst die ­Verhältnisse zu kritisieren. O. k. Aber für mich ist es der bessere Weg, in der Gesellschaft als Künstlerin aktiv zu sein.» In ihren Workshops gibt Lym Moreno Menschen etwas in die Hand: Papier, Schnittwerkzeug, Klebstoff. «Sie glauben in diesen Momenten an sich. Egal welche Probleme sie sonst ­haben und welche Idee sie darüber mit sich herum­tragen, dass sie irgendwas nicht so schaffen, wie sie sollten – in diesem Moment schaffen sie etwas.» Manchmal ­treffe sie Menschen wieder, die sie vor vielen Jahren durch einen Workshop begleitet habe. «Und wenn die dann sagen, ‹Hey, Lym, ich vergesse nie, wie schön das war!›, dann bin ich echt beeindruckt. Ich habe vielleicht etwas ganz, ganz Kleines zum Leben dieser Menschen beigetragen; aber in diesem Moment war es wichtig, und daran erinnern sie sich.»

Zu Hause sein

Im Herbst 2010 kam Lym Moreno nach Wien, im Jänner 2011 ­hatte sie den Schlüssel für ihr ­Atelier im WUK. Heute ist es frisch gestrichen, der Heiz­körper unter dem sanierten ­Industriefenster ist neu und wärmt den hellen Raum. «Als ich hier eingezogen bin, wusste ich: Ich bin in Wien willkommen, ich kann hier bleiben.» Zuerst war es ein Gastatelier, das Moreno für drei ­Jahre nutzen ­konnte. Sie bekam eine Verlängerung, dann noch eine. «Nach neun Jahren ­dachte ich, so ein Gastatelier ist eine wunderbare Chance, ich muss das jetzt weitergeben. Aber ­meine Kolleg:innen aus den anderen Ateliers kamen zu mir und sagten: Du darfst uns nicht verlassen! Und sie haben im Plenum beantragt, dass aus dem ­Gastatelier ein Lym-Moreno-Dauer­atelier wird. Ich war so gerührt, ich habe ­geweint.» Ein Atelier zu haben, sagt ­Moreno, sei für viele Künstler:innen schwer leistbar, aber notwendig, um ­arbeiten zu können. Umso dankbarer ist sie für diesen «schönen Raum an diesem coolen Ort zu diesen unglaublichen Konditionen. So etwas findet man nicht noch einmal auf der Welt.»
Als wir Moreno im Atelier besuchen, ist sie gerade seit einer Woche aus Venezuela zurück. «Ich war das letzte Mal vor acht Jahren dort. Manchmal ist es schwierig, so weit weg von meiner Familie zu sein. Aber Wien ist mein zweites Zuhause.» In den ersten Jahren in Österreich habe sie sich öfter gefragt: Was mache ich hier? Wie lange soll ich bleiben? «Vor allem im Winter!». Aber dann sei ihr der Gedanke gekommen: «Wien braucht Menschen wie mich. Was ich hier mache, erweitert die Kultur. Und darum lebe ich hier, bis mein Herz mir sagt: Jetzt ist es genug. Dann ­ziehe ich weiter.»

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