Verfallenes und Bizarres im Centro Habana auf Kuba
Der Journalist Jürgen Schaefer hat Centro Habana als die «verwilderte große Schwester» der berühmten Altstadt bezeichnet. Diesem Stadtteil ist der Verfall trotz einiger Schönheitsoperationen dennoch ins Gesicht geschrieben. Eine Reisereportage von sole noir (Text und Bilder)
Unter dem am Straßenrand geparkten schwarzen Lada liegt ein junger Mann. Als ihm ein zweiter etwas zuruft, kriecht er unter dem Auto hervor, springt auf, lacht und drückt seinem Freund den Schraubenzieher in die Hand. Gemeinsam öffnen sie die Motorhaube und vertiefen sich in den alten Ladas. Vor dem kleinen Straßenverkaufsladen bildet sich eine Schlange. Schüler_innen in roten und beigen Uniformen stehen unter dem Schild «Ni más ni menos» (Weder mehr noch weniger)und warten auf Fruchtsäfte und Sandwiches. Die beiden Jungs laufen ins Haus und kommen mit zwei gelben Schlangen zurück, die sie um ihre Unterarme gewickelt haben. Ein Tohuwabohu bricht aus. Die Schüler_innen laufen kreischend herum, die Jungs mit den Schlangen hinterher. In den Hauseingängen sitzen Menschen, beobachten und kommentieren das Schauspiel, das so schnell vorbei ist, wie es begonnen hat. Die Ereignisse in der Calle Ánimas nehmen wieder ihren gewohnten Nachmittagsverlauf. Der kleine Junge fährt mit dem Elektrospielzeugauto herum, der Vater läuft an der Leine hinterher. Die Frau, die jeden Tag ihre vielen Runden um den Häuserblock zieht, lässt ein paar Worte fallen. Es geht ums Wetter, um die Schönheit und um das Herz. «Que lindo!», sagt sie oft und meint damit wohl das Leben an sich.
Schattenseiten.
Dass das Leben hier in Centro Habana nicht immer so schön und einfach ist, erzählt uns Alexander, der nachmittags von der Arbeit nach Hause kommt, oft schon mit einem Rum-Glanz in den Augen. Seine Arbeit, das seien alle möglichen Handwerkstätigkeiten in den Häusern des Barrio (Stadtviertel), schlecht bezahlt, da die Menschen kaum Geld hätten. Metallurgie habe er studiert, aber in der Fabrik habe er noch weniger verdient. Reyna kommt aus dem Haus, wechselt ein paar Worte mit Alexander und macht sich dann auf den Weg, um die Einkäufe zu erledigen. Sie arbeitet in der Casa Particular, in der wir wohnen, sie bereitet das Frühstück zu und räumt auf. Ihr gelingt es oft, Lebensmittel aufzutreiben, die vorübergehend aus den Verkaufssortiments verschwunden sind, vor allem Eier und gewisse Früchte. Sie arbeitet hart und viel. Ein Großteil ihres Verdienstes geht an ihre Familie, die in Holguín, einer kleinen Stadt im Osten, lebt. Reyna ist 59 Jahre alt und mehrfache Großmutter. Eigentlich sei sie damals aus Holguín weggegangen, um in La Habana Medizin zu studieren, aber dann sei ein Kind dazwischengekommen. Sie erzählt das mit einem Lächeln, in dem leises Bedauern liegt.
Die Calle Ánimas, unser Referenzgestirn mit seinen Trabanten, liegt am Rande Centro Habanas, in einem Grätzl, das Cayo Hueso (Knochen-Viertel) genannt wird, da es auf einem alten Friedhof errichtet wurde. Centro Habana ist Teil eines weit größeren Universums namens Havanna, der Hauptstadt von Kuba. Klein ist dieser Stadtteil, kaum 3,5 km2 und knapp über 100.000 Bewohner_innen. Er liegt östlich der berühmten Altstadt (Habana Vieja), schmiegt sich dem Malecón entlang, die großteils einspurigen Straßen sind schachbrettartig angelegt.
Die meisten Häuser sind marod, die meisten Straßen auch. Während ein Haus saniert wird, verfallen zwei. Hinter den offenen Eingangstüren sieht man bunte und üppig dekorierte Zimmer. Ein Schaukelstuhl mit einer älteren Person, der Fernseher läuft. Straßenhändler mit Handkarren rufen ihre Waren aus, an einer Ecke ein klappriger mobiler Verkaufsstand, an dem saisonales Obst und Gemüse verkauft wird. Eine privat geführte Pizzeria. Bestellt wird im Erdgeschoß durchs Fenster, die Pizza wird vom zweiten Stock in einem Korb herunter gelassen. Neben einer Einfahrt liegt eine Matratze auf einem Gestell. Sie wird gerade repariert. Schaumgummistücke werden mit einer dicken Nadel eingenäht.
Eine Supernova der Sinne.
In Sommerkleid, kurzer Hosen und Schlapfen machen wir uns auf den Weg zur Callejón de Hamel. Die Ánimas rauf und einmal um die Ecke. Einige Fahrradtaxis stehen vor dem gemauerten Eingangstor des schmalen Gässchens. Die Wände sind bunt bemalt, die Fassade des dahinterliegenden Wohnblocks ebenfalls. Wir gehen an einer Bar vorbei, gegenüber ein Souvenirgeschäft, vor uns steht eine gelbe Skulptur aus Stahlstangen, Fahrradfelgen und dem Gestell eines Campingsessels. Mit jedem Schritt tauchen wir tiefer in diese obskure Welt. In der Galerie erklärt uns ein Mann mit Dreadlocks und Brille, der neben dem Eingang sitzt, die Geschichte dieser Straße und ihrer Neugestaltung, die untrennbar mit dem Namen Salvador González Escalona verbunden ist. Seit 1968 wohnt dieser Künstler in der Straße, 1990 begann er seinen Wohnort zu gestalten. Die Anwohner_innen und Behörden hielten ihn zunächst für verrückt. Er verzierte die Mauern, die Fassaden mit seiner Malerei, baute seine Skulpturen und stellte Unmengen halbierter Badewannen als Sitzmöglichkeiten auf. «Und er ist verrückt», meint der Mann lächelnd. Mit den Jahren wurden die Schwierigkeiten weniger und die Unterstützung wuchs. Heute ist die Straße eine Attraktion. In jedem Havanna-Reiseführer ist sie zu finden. Der Mann von der Galerie führt uns hinunter in ein kleines Gewölbe, in dem einige Bilder Salvadors hängen. Seine Arbeit beruht auf einer intensiven Auseinandersetzung mit karibisch-afrikanischen Religionen und Kulturen. «Sie ist eine Mischung kubistischer, surrealistischer und abstrakter Kunst», erklärt er. Die Callejón ist mittlerweile mehr als ein Kunstprojekt, sie hat sich zu einem Community-Projekt entwickelt, ist ein sozialer und kultureller Treffpunkt des Grätzls. Jeden Sonntagmittag gibt es Konzerte, Musik, Tanz und eine Reisebusladung Tourist_innen. Sie ist wohl die auffälligste Gasse Havannas, eine verrückte Geldmaschine, eine Supernova der Sinne, ein lebendiges Paralleluniversum und ein angenehmer Rückzugsort gleichzeitig.
Planet Trash.
Wir biegen um die andere Ecke der Calle Ánmias und überqueren die etwas breitere Calle San Lázero. Unsere Blicke bleiben an einer Hausfassade hängen, die mit Schnipsel aus den offiziellen Staatszeitungen «Granma» (benannt nach der Jacht, mit der Fidel Castro und Co. auf der Insel gelandet sind) und «Juventud Rebelde» (Rebellische Jugend) beklebt ist und an der Monitore von alten russischen Fernsehern montiert sind. Hinter dieser Fassade liegen Galerieräume, deren Wände ebenfalls mit Zeitungscollagen tapeziert sind. Skulpturen aus Papiermaché stehen herum, Schreibmaschinen hängen an den Wänden, überall liegt Krimskrams. Am großen Arbeitstisch sitzt Amelia und umwickelt einen Papiermaché-Apfel mit Garn. Sie ist die Tochter von Lázaro Medina Hernandez, des Künstlers, der 2009 begonnen hat, seine Wohnung in eine Galerie zu verwandeln. Momentan sei er in den USA, meint Carlos, der sich in Lázaros Abwesenheit um den Raum kümmert. «We are making trash beautiful», fügt er hinzu und zeigt lachend auf die Stellagen voller Fundstücke. Als eine Kultur des Recyclings bezeichnet es Amelia und erzählt, dass es ihnen wichtig sei, die Nachbar_innenschaft mit einzubeziehen. Vor allem die Kinder. Sie kommen und malen hier. Begonnen habe das mit Nachhilfestunden. Ein paar Kinder aus der Nachbarschaft seien einfach vorbeigekommen. Ihnen habe der Raum gefallen und Lázaro habe mit ihnen gelernt. Nach und nach sind mehr Kinder gekommen und es hat regelmäßig Mal- und Bastelvormittage gegeben. «Wir wollen mithelfen eine freundlichere und gesündere Atmosphäre in unserem Grätzl zu schaffen.» Zum Abschied schenkt uns Amelia einen mit Garn umwickelten Papiermaché-Apfel, the small and very charming Apple of Centro Habana.