Im Durchschnitt ziehen Österreicher:innen mit 25 Jahren von zu Hause aus. Wer in einer Einrichtung der Jugendhilfe wohnt, muss diese meist mit 18 verlassen und ist plötzlich auf sich allein gestellt. Was brauchen Careleaver für einen besseren Übergang in die Selbstständigkeit?
Wie läuft es derzeit ab, wenn junge Erwachsene in der stationären Jugendhilfe volljährig werden?
Doris Moravec: Wenn die Person 16 bis 17 Jahre alt ist, wird die Selbstständigkeit zum ersten Mal thematisiert. In Österreich haben Jugendliche bis 18 einen Rechtsanspruch auf Unterstützung aus der Kinder- und Jugendhilfe. Zwar gibt es die Möglichkeit, bis 21 zu verlängern, aber ohne Rechtsanspruch. Eine der Voraussetzungen ist, dass sie zum Zeitpunkt des Antrags um Verlängerung in einer Ausbildung sein müssen. Das heißt, dass nur die jungen Erwachsenen verlängert werden, die sowieso ein bisschen besser dastehen, weil sie in Ausbildung sind. Jene, die nicht in der Lage sind, eine Ausbildung zu machen, müssen mit 18 schon selbstständig werden.
Wer keine Ausbildung macht, wird vor die Tür gesetzt?
Doris Moravec: Es gibt Möglichkeiten, wie sie in betreute Wohnformen umsteigen können, aber das geht in Wien dann meistens entweder über die Behindertenhilfe oder über die Wohnungslosenhilfe. Das Problem ist, dass diese Unterstützungsformen einerseits für junge Erwachsene als sehr stigmatisierend empfunden werden, andererseits bezahlt werden müssen, und wenn die jungen Erwachsenen kein fixes Einkommen haben, weil sie vielleicht nicht psychisch stabil genug für einen Job oder eine Ausbildung sind, dann werden sie tatsächlich obdachlos.
Markus: Ich bin mit 17 das erste Mal von der Wohngemeinschaft ins Betreute Wohnen gekommen. Am Anfang hat es funktioniert, weil ich Arbeit hatte, aber nachdem ich die Arbeit verloren hab, konnte ich dort nicht bleiben. Ich konnte zwar noch dort wohnen, solange ich keine eigene Wohnung hatte und auf die Mindestsicherung gewartet habe, aber danach war ich komplett auf mich allein gestellt. Meine erste Wohnung hatte ich auch nur ein paar Monate.
Sind die bestehenden Jugendbetreuungseinrichtungen darauf ausgelegt, Careleaver auf die Herausforderungen des selbstständigen Lebens vorzubereiten?
Doris Moravec: Es wird versucht, die Jugendlichen bestmöglich vorzubereiten, obwohl die Ressourcen knapp sind und viele Themen behandelt werden müssen. Trotzdem gibt es Konzepte, die viele Einrichtungen in ihre Qualitätsrichtlinien aufnehmen. Man nennt den Prozess der Verselbstständigung aus einer stationären Einrichtung auch «Leaving Care». Die Wichtigkeit dieser Phase kommt in der Forschung und in den Einrichtungen immer mehr an.
Je nach Bundesland gibt es andere Voraussetzungen in der Kinder- und Jugendhilfe: wie viele Kinder in einer WG untergebracht sind, mit wie vielen Betreuungspersonen. Kärnten ist, was Careleaver-Arbeit angeht, ein sehr positives Beispiel. Von dort aus hat sich ein Careleaver-Verein gegründet, ein Selbstvertretungsverein von jungen Erwachsenen, weil das Bundesland zwei Anlaufstellen hat und viele Careleaver dort sehr motiviert sind. Sie bringen immer wieder ihre Anliegen in den politischen Diskurs ein. Organisationsübergreifend setzt sich die Jugendhilfe 18+, eine Vernetzungsplattform von Kinder- und Jugendhilfeträgern von ganz Österreich, für bessere Bedingungen in und nach der stationären Fremdunterbringung ein.
Markus: Mir wurde nicht beigebracht, wie man mit Geld umgeht. Mit 24 konnte ich zum ersten Mal Miete und Essen bezahlen. Davor konnte ich immer nur eine Sache bezahlen und hatte die andere nicht. Mir hätte es geholfen, wenn ich gewusst hätte, wie man mit Geld umgeht. Und auch generell, wenn ich mehr Unterstützung gehabt hätte. Ich bin sehr oft von Wohngemeinschaft zu Wohngemeinschaft umgezogen. Ich fühlte mich deshalb auch nie richtig daheim und hatte Angst, wieder umziehen zu müssen. Ich weiß, meine Aggressionsprobleme waren kritisch, aber ich konnte halt auch nichts dafür.
Frau Moravec, Sie leiten bei der Volkshilfe Wien ein Mentoringprojekt für Careleaver und bieten darüber hinaus Beratung und Begleitung im Rahmen der Careleaver-Beratungsgutscheine an. Was wird damit konkret angeboten?
Doris Moravec: Bei den Careleaver-Beratungsgutscheinen handelt es sich um ein Kooperationsprojekt zwischen Volkshilfe Wien, Stadt Wien und SOS Kinderdorf. Careleaver der Wiener Kinder- und Jugendhilfe können bis zum 24. Geburtstag kostenlos 45 Stunden Beratung u. a. zu den Themen Wohnen, drohende Delogierung, Arbeit/Ausbildung, Partnerschaft/Familie, psychische und physische Gesundheit, Finanzen und Sucht erhalten. Die Altersbefristung ist natürlich nicht ideal – Markus kann z. B. nicht mehr zu uns kommen.
Markus, wie wirkte es sich auf dich aus, plötzlich auf eigenen Beinen stehen zu müssen?
Markus: Ich war zum Teil wirklich komplett auf mich allein gestellt. Es ist schwer, herauszufinden wem man vertrauen kann, gerade wenn man, wie ich, oft umziehen musste. Es gibt keine Stellen, an die man sich wenden kann. Auch bei der Arbeitssuche hab ich mir lange schwergetan. Mit dem AMS ist es nicht einfach, sie nehmen keine Rücksicht, wenn du gerade in einer schweren Lage bist oder Termine nicht wahrnehmen kannst oder nicht die Chance hast, ordentliche Bewerbungen zu schreiben. Ich hatte zum Beispiel auch lange kein Handy, weil ich es mir nicht leisten konnte. Da konnte ich nicht erreichbar sein.
Da ich so oft umgezogen bin, fällt es mir schwer einzuschätzen, wann ich was gemacht habe. Das ist aber notwendig, um einen Lebenslauf zu schreiben. Auch mit der Wohnung finanziell klarzukommen und zu wissen, wo ich was mache und wie ich es mache, das ist schwer für mich. Ich will mich jetzt auch bei der Schuldenberatung anmelden, um ein Betreutes Konto einzurichten.
Doris Moravec: Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass es um Menschen geht, die oftmals ein sehr geringes verlässliches soziales Netzwerk haben. Kontakte zu Gleichaltrigen sind sehr wichtig für junge Menschen. Da sie aber selbst auch oft in Problemlagen sind, können sie bei Organisatorischem nicht helfen. Fragen wie «Was muss ich bei einem Mietvertag beachten?», «Wie eröffne ich ein Bankkonto?» oder «Muss ich eine Haushaltsversicherung abschließen?» wissen die meisten von uns als junge Erwachsene nicht. Jene, die kein verlässliches soziales Umfeld haben und gleichzeitig schon früh allein zurechtkommen müssen, sind also doppelt benachteiligt.
Was braucht es, um Careleavern einen guten Start in ein selbstständiges Leben zu ermöglichen?
Doris Moravec: Es braucht eine bessere Begleitung in der Umbruchzeit zwischen 15 und 25 Jahren. Eine Möglichkeit dafür wäre eine Art «Jungerwachsenenhilfe» als nicht-stigmatisierende Unterstützung zu etablieren. Unser Verein [um]bruch:stelle setzt sich außerdem dafür ein, dass die Jugendhilfe per Rechtsanspruch länger zuständig sein sollte. Norwegen ermöglicht beispielsweise die stationäre Betreuung bis 20, flexibel gestaltbare ambulante Hilfsmaßnahmen auch bis 23 Jahre. Wesentlicher Unterschied: Careleaver können auch schon mit 18 aus dem System austreten, wenn sie argumentieren können, dass sie diese Unterstützung nicht mehr benötigen, also allein zurechtkommen. Österreich hingegen verfolgt ein defizitorientiertes Sozialsystem, wo Personen stets beweisen müssen, wie schlecht es ihnen geht, um Unterstützung zu erhalten.
Wenn Careleaver in Norwegen z. B. mit 19 oder 20 draufkommen, dass sie doch noch Unterstützung bräuchten, können sie auch dann bei der Jugendhilfe andocken und ambulante Unterstützung erhalten. Es ist also eine Art «Rückkehr» in ein bekanntes System möglich, die es bei uns nicht gibt und von vielen gefordert wird.
Modelle wie das Betreute Wohnen sollten ausgebaut und flexibler gestaltbar sein, weil sich Bedürfnisse bei jungen Erwachsenen rasch ändern können, da das Jungerwachsenenalter generell eine Zeit der großen Veränderungen ist. Es braucht Möglichkeiten, die es jungen Erwachsenen erlauben, Wohnformen auszuprobieren – ohne große Schuldenberge zu sammeln.
Außerdem sind verlässliche, langfristige Bezugspersonen zentral für die Bewältigung von Umbrüchen. Es gilt also, viele Betreuungs- und Systemwechsel, wie Markus sie beispielsweise hatte, möglichst zu vermeiden. Aktuell gelingt das nicht gut, und die jungen Erwachsenen sehen sich oftmals alleine und überfordert mit Herausforderungen konfrontiert. Wir produzieren dadurch Armutsverhältnisse.
Markus: Ich kann keine konkrete Idee nennen. Ich hätte einfach länger und mehr Unterstützung gebraucht.