Von Katharina Mücksteins aktuellem Film bis zu Töchtern, die ihren Müttern kündigen
Meine liebe Freundin Edith (Name geändert) hat eine Tochter, so wie ich auch. Wir kennen uns sehr lange und ziemlich gut, waren oft gemeinsam auf Urlaub, unsere Kinder gemeinsam in der Kindergruppe, dann im Kindergarten und sogar in derselben Schule. Unsere Kinder sind erwachsen, gehen langsam auf die Dreißig zu. Wir beide hatten es sowohl als Kinder als auch als Mütter nicht immer leicht im Leben, beide sind wir Künstlerinnen, haben jahrzehntelang gekämpft; für Umweltschutz, für Feminismus, für unsere Kunst, für eine gute Ausbildung für unsere Kinder, für die Familie. Wir haben das gegeben, was wir konnten, und oft viel mehr als notwendig war. Aber auszusprechen, wir haben nicht gelernt, für uns selbst zu kämpfen, ist rückblickend schmerzhaft. Wenn ich für mich spreche, so kam dieses notwendige, gesunde Bewusstsein für meine eigene Sorge erst nach meiner schweren Depression, die – wie Ärzte zu recht behaupten – in ihrer Dimension einer Krebserkrankung gleichkommt. Das kann Jahre dauern und ist ein langwieriger, zäher Prozess, mit enorm viel Therapie. Nur damit wir hier wissen, wovon wir hier reden: Manche glauben, dass Depression eine Verstimmung ist, sie haben von der Entsetzlichkeit der Erkrankung keine Ahnung. Man muss unterscheiden, denn eine depressive Verstimmung ist bei Gott nicht eine schwere Depression. Wie auch immer, mir ist es wichtig, das zu betonen, denn die Anzahl an Personen mit schweren Depressionen nimmt zu. Meine liebe Edith, auch sie mit seelischer Erkrankung, hat seit einigen Monaten jedweden Kontakt zu ihrer Tochter verloren. Die Tochter hat die Verbindung gekappt. Es gingen Jahre der Abwendung voraus, die Edith natürlich bemerkte, sich jedoch besonders zurückhielt, in allem, was sie ihrer Tochter sagte, vorsichtig wähnend, was gesagt werden darf. Möglicherweise ein Fehler, wer weiß. Die Ablehnung körperlicher und geistiger Art eines Menschen, den man zutiefst liebt, gehört zum Schlimmsten, keine Frage. Als Edith ihr unlängst auf einer großen Einkaufsstraße rein zufällig begegnete, passierte das, wovon sie in der Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern* oft genug verstört las, niemals aber vermutete, es würde ihr selbst passieren: Die Tochter sah weg und lief weiter. Damit war die Bindung zerbrochen. Edith brach zusammen an dem Tag, schleppte sich noch in ein Geschäft, um sich abzulenken, vom Schmerz, der sie in einer Wucht drangsalierte, die sie nie zuvor erfahren hatte, kaufte ein paar Schuhe – wie gut, dass wir alle zu ablenkbaren Konsument*innen geworden sind! – und bestieg die U-Bahn nach Hause. Dann rief sie mich an. Wir sprachen. Ich telefonierte lange mit ihr an diesem Tag, sie sagte, seither sei ihr Leben nicht mehr das, was es einmal war. Ja, erwiderte ich, wie gut ich mir das vorstellen kann. Sie gab sich die Schuld, sie schämte sich, darüber zu sprechen, suchte nach Szenen in ihrer Erinnerung, tagein, tagaus, durchlief im Geist alle Jahre, Szenen, ob sie irgendetwas finden würde, was der Auslöser sein könnte – sie wird ihn nicht finden. Den berühmten Satz vom «Loslassen» habe ich ihr nicht unterbreitet, zu banal klingt das, zu einfach. Als ob Mütter alles der Familie geben müssten – und dann müssen Mütter für alles herhalten. So war es in meiner Herkunftsfamilie. Auch ich lehnte meine Mutter vehement ab, verstand erst mit Ende vierzig ihren Werdegang, die patriarchalen Umstände als Frau, geboren 1922, Krieg, Flucht, Trauma, Abhängigkeit vom Mann. Edith ist ein liebevoller, emotional tiefgehender Mensch. Sie hat nichts falsch gemacht. Und doch machen wir alle, alle Eltern, irgendetwas falsch in der Begleitung unserer Kinder, in der unendlichen Liebe zu unseren Kindern, wir wiederholen Muster, die wir von unseren Eltern erlernt haben, oder den Großeltern, eben weil wir menschlich sind, weil wir im Prozess des Entwickelns sind, bis zum Ende. Es gibt also Chancen, sage ich zu Edith. Du wirst daran wachsen, mit Sicherheit, du wirst dich von deinen Erwartungen gegenüber deiner Tochter lösen, ohne Schuld, Scham und Depression. Du wirst sanfter werden mit dir im Umgang und du wirst stolz auf deine Tochter sein, die Generation Y, die die Kraft und Courage hat, sich von dir zu distanzieren, weil es ihr zu viel wird, weil sie Freiheit braucht, im Kopf, im Herzen, im Erleben. Du, ich und wir alle lernen aus allem, was uns umgibt, permanent; von unseren Angehörigen, von der Umwelt, von den Lehrer:innen, von Freund:innen usw. Es gibt den Spruch «Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf». Wenn aber ein Kind seine Eltern oder ein Elternteil für immer verlässt, oder auf unbestimmte Zeit, zeigt man dann mit dem Finger auf die Eltern, womöglich nur auf die Mutter? Nein, das wäre nicht fair!
Die Generation der jungen Feministinnen ist offensiver
Am selben Abend gehe ich ins Filmcasino, ich habe Karten für Katharina Mücksteins sensationellen Film, in ästhetischem Sinne wie auch inhaltlich, Feminism WTF. Unlängst habe ich mit Mückstein für den Tatort gedreht als Schauspielerin, die ich ja immer noch bin. Endlich führen auch Frauen Regie. Ich frage mich, wie wir Frauen das Milieu vor 40 Jahren ausgehalten haben. Der Biologismus, der damals, wie auch heute noch, Debatten prägte, war durchdrungen von der Kategorie der Frau als «empfindsames Wesen», die Frau sei körperlich zu vielem «gar nicht in der Lage, geistig natürlich ebenso», all diese absurden Argumente formten die Grundlage einer anhaltenden Ungleichheit. Auch der liebe Immanuel Kant hat da seine Spuren hinterlassen. Der Film beginnt mit einem Spiel. Einem Erwachsenen wird ein vermeintlich weibliches Kind zum Spielen überlassen, einem anderen Erwachsenen ein vermeintlich männliches Kind. Beide Kinder spielen letztendlich nur mit Dingen, die stereotyp ihrem Geschlechterverhalten «entsprechen». Danach wird aufgeklärt. Das weibliche Kind ist ein Bub, das männliche ist ein Mädchen. Studien zeigen nämlich, dass Erwachsene ihr Spielverhalten an das Geschlecht des Kindes anpassen, auch die Stimmlage verändert sich.
Zahlreiche Wissenschafter:innen kommen in dem Film zu Wort. Dazwischen wird getanzt, und das so gut, dass ich mich in die Tänzerin verliebe. Ach! Sigrid Schmitz, Biologin und feministische Wissenschaftsforscherin, erklärt: Die Frage nach dem «sex» sei nicht wichtig, aber wieso fragen wir danach, und was sei biologisches Schicksal? Schlussfolgerungen wie zum Beispiel «Ich habe nun mal so viel Testosteron und daher bin ich aggressiv …» basieren auf Biologismen und sind völlig falsch. Kategorien haben dann eine Art versichernde Wirkung, weil sie gesellschaftliche Strukturen so belassen, wie sie sind. Wenn es nur zwei Kategorien gibt, ist immer nur eine an der Macht, und das bleibt so. Dabei existiert ein hochkomplexes Netzwerk auf den Chromosomen! Persson Perry Baumgartinger spricht davon, dass Geschlechter-Vielfalt Alltag ist und dass es funktioniert. Binäre Kategorien existieren nicht. Die Frage dabei ist: Wieso sollte das Viele dem Wenigen weichen?
Caring Democracy
Laura Wiesböck bezieht sich auf die Arbeit. Geschlechterrollen beruhen auf Arbeitsteilung im Sinne von bezahlt und unbezahlt plus sozialer Anerkennung. Eine Gruppe ist zuständig für die Sorgearbeit. Na wer wohl? Und wird abgewertet, schlecht bezahlt oder arbeitet gratis. Im Kapitalismus ist das dann so: Selbstverständlich muss diese Arbeit nicht bezahlt werden, denn wenn das alles bezahlt werden müsste, könnten keine Profite mehr erzielt werden. Es besteht also immenses Interesse an der patriarchalen Geschlechterordnung. Christoph May von der kritischen Männerforschung spricht davon, dass Männer glauben, Feminismus hätte nichts mit ihnen zu tun. Oft werden die Gefühle jener Männer dem Klischee des Männlichkeitsbildes dementsprechend unterdrückt oder ausgedrückt. Auch bei den Nazis konnte man das populistische Gerede von Verweiblichung oder Verweichlichung annähernd in einer Dauerschleife vernehmen. Ich denke da an meinen Vater. Und an meinen Bruder, der die totale Verweigerung durchgezogen hat. Alle Achtung, lieber Bruder! Übrigens: Jeden Tag versucht ein Partner seine Partnerin zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es.** Wieso bewaffnen wir uns nicht, fragt Mückstein. Männer müssen lernen, mit Kränkungen gewaltfrei umzugehen, wenn nicht, dann sollen sie keine Machtpositionen innehaben, sagt die Aktivistin Rona Torenz. Und wie sieht die Zukunft aus, was wäre in 100 Jahren? Wir werden eine Caring Democracy erleben und Kopfschütteln wird darüber herrschen, dass die Menschen das damals nicht erkennen konnten. Was hat das alles mit dem Kontaktabbruch der Töchter zu ihren Müttern zu tun? Ich weiß es: alles oder nichts!
* Selbsthilfegruppe in Graz (hybride Treffen): www.dashausvonmorgen.at
** Diese Aussage aus «Feminism WTF» bezieht sich auf Deutschland