Cherchez la Femme: Body of MineDichter Innenteil

Herzensfreude (Illustration: © Jella Jost)

Ausflug zur Biennale

Ach Venezia! Gondeln (kitschig und wirklich in jeder 2. Gondel ein frisch vermähltes Pärchen), Amore (nur im Film), der Lido (baden nur mit bezahlter Liege erlaubt), das Meer (gibt’s woanders auch), Spaghetti di Sepia (können in Wien besser schmecken), der Canale Grande (dreckig), die Rialtobrücke (Gewühl an Tourist:innen), Muranoglas (an jeder Ecke), die Palazzi (romantischer Verfall in den kurzsichtigen Augen der Tourist:innen), der Carneval, die laut-rhythmischen Motorengeräusche der Vaporetti, Donald Sutherland als Casanova (Fellini!), die Biennale und die Giardini – die Gärten und das Teatro de la Fenice und das legendäre Café Florian, mit unbeschreiblicher Innenausstattung und unbeschreiblichen Preisen, bei einem Bier um 48 €. Willkommen liebe:r Tourist:in. Schön. Trotz allem immer noch begehrenswert, die Serenissima, eine geschminkte, alte Kokotte, die den Glanz vergangener Tage nicht einmal mehr vorzutäuschen vermag – ein alter Sager. Und wagt man am Markusplatz ein Stückchen Essbares in der Hand zu halten, wird die Möwe – die im Sturzflug schneller als jeder Gedanke ist – den teuer erkauften Snack ohne Erbarmen ergreifen und wegfliegen. Kreisch!

Massentourismus

Ich verfalle dem Trugbild der einstigen Adelsrepublik bis 1797, mit ihrem Stadtbild aus dem 18. Jahrhundert, den durchaus ästhetisch prachtvollen Palästen der Superreichen der damaligen Zeit. Wie sie wohl zu ihrem Geld kamen? Dabei bin ich wahrlich nicht zum ersten Mal in Venedig. Mit neunzehn Jahren wollte ich an die Akademie und so fuhren meine beste Freundin Susanne und ich nach Venedig, übernachteten bei Bekannten von ihr, gingen stundenlang durch Venedig spazieren, malten, zeichneten an jeder Ecke Häuser byzantinischen, islamischen, gotischen Einflusses, Loggien, Säulen und Reliefornamente. Und an jeder Ecke wurden wir von jungen Männern angebaggert. Sagt man das heute noch? Das war Anfang der 80er Jahre. Den Massentourismus wie heute habe ich damals nicht erlebt. Ich folge übrigens einem Account auf Instagram, der zuweilen skurrile Videos von Tourist:innen postet, die zum Beispiel von Häusern oder Brücken in den Kanal springen und sich dabei filmen lassen. Kreisch!

Gender Dysphorie

Im ersten Coronajahr wagte ich mich bis Venedig. Der Markusplatz war im Juli leer. Leer. Es war herrlich. Ich erlebte ein Venedig in dem mehr Italiener:innen ihr Leben leben als Tourist:innen ein- und ausströmen. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich ein Zimmer im Salzburgischen bewohne und sich die Fahrtzeit nach Venedig auf 4,5 Stunden beläuft. Und genau aus diesem Grund fuhr ich vor zwei Wochen wieder nach Venedig, um die Biennale Immersive zu erleben auf der Isola di Lazzaretto Vecchio, in der sumpfigen Lagune. Ich gestatte mir den Genuss von Kunst und Technik, von Architektur in den Giardini, etwas, das ich mir in all den vielen Jahren zwischen Studium und Kindererziehung nie leisten konnte, weil ich zwei Kinder hatte, arbeitete oder weil einfach kein Geld übrig war. Das zeigt sich jetzt endlich etwas anders. Ich genieße die Möglichkeit Kunst zu erleben und berührt zu werden oder neue Inputs zu erhalten. Es beflügelt. Es macht mich glücklich. Ich wollte unbedingt Virtual Reality erleben, insbesondere Body of Mine des jungen griechischstämmigen Texaners Cameron Kostopoulos, der in Kalifornien lebt und sich mit Gender Dysphorie auseinandersetzt. Wir sprachen vor und nach dem Set miteinander. Er erzählte mir, dass es sehr schwer für ihn gewesen sei in Texas aufzuwachsen. Bevor ich überhaupt die Gelegenheit erhielt einen Platz in seinem «Zelt» zu erhalten, stand ich stundenlang an und fragte immer wieder nach einem «Slot», also nach einem freien Platz, falls jemand seine Buchung nicht wahrnimmt. Die gesamte Suche nach einer Anmeldung und Tickets auf der Hauptseite der Biennale gleicht fast einer Magisterarbeit. Es dauerte in der Tat Stunden bis ich herausfand wie das Ganze funktionierte. Und tatsächlich war es am übernächsten Tag spätabends soweit: Ich wechselte in den Körper eines anderen Menschen. Ich war Ray, ein farbiger Mann, ein Maori. Als Geschlechtsdysphorie wird ein Leidensdruck bezeichnet und eine schmerzliche gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem was wir Identität nennen, in diesem Fall die fehlende Kongruenz von Identität und durch die Geburt determiniertem Körper/Geschlecht. Das ist also ein Zustand mit dem Menschen schwer zu kämpfen haben. EU und WHO bemühen sich die Gender Dysphorie als nicht-pathologisierende Neueinstufung sicherzustellen, lese ich auf Wikipedia. Ob das ausreichend ist und wie das in den Ländern unterschiedlich gehandhabt wird, diese Frage stellt sich angesichts eines kontinuierlichen Rechtsrucks wohl eher nicht. Der noch sehr junge Regisseur Kostopoulos ist ein mehrfach ausgezeichneter Filmregisseur und XR*-Pionier. Er bezeichnet seine Arbeiten als emotionalen Realismus, in dem die inneren Prozesse der menschlichen Psyche erforscht werden. Er arbeitet mit führenden LGBTQ+ Organisationen zusammen, um Geschichten zu queeren Identitäten zu promoten. Das Zusammenwirken von Technologie und Intimität ist sein Hauptanliegen. Lange Zeit war VR**-Hardware teuer, umständlich und eher unzugänglich für die breite Masse. Heute sieht die XR-Technologie ganz anders aus: 360-Grad-Videos auf YouTube, AR-Filter auf Snapchat und selbstgebaute VR-Geräte wie das Google Cardboard verändern unsere Erfahrung von immersiven (eintauchen) Erlebnissen. XR bezieht sich auf reale und virtuelle Umgebungen und Mensch-Maschine-Interaktionen als Sammelbecken für Formen wie Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR). VR lässt User im Gegensatz zur AR vollständig in eine simulierte digitale Umgebung eintauchen. Ein VR-Headset sorgt für eine 360-Grad-Ansicht einer völlig neuen Welt, in die wir versinken können, wenn wir wollen. Das kann im Fall von Body of Mine oder anderen Erlebnissen, die ich dort hatte, eine unglaubliche Ausschüttung an Dopamin und Endorphinen bewirken. Besser als jede Droge (Augenzwinkern). Body of Mine: Ich gehe also hinein in das rot-schwarz beleuchtete Zelt, innen werde ich an Kopf, Händen und Füßen an technische Geräte angeschlossen. Es geht los. Ich bin nervös. Blicke um mich herum und befinde mich im Inneren eines menschlichen Körpers. Sehe und höre das Herz pumpen, ein Wunderwerk, ein intimer Moment dem Zentrum eines Körpers so nahe zu sein. Schmetterlinge fliegen aus dem Herzen. O das ist so schön. Das tut meinem Herzen gut. Ich synchronisiere mich. Dann erscheint vor mir Ray. Das ist er also – in dessen Körper ich stecke. Ich sehe ihn an. Bewege meine Arme, meine Hände und betrachte sie eingehend, denn sie sind anders als die, mit denen ich verbunden bin. Wenn ich meinen Verstand, mein Wissen einschalte, kann ich mir in gewisser Weise vorstellen, wie es einer Person geht, die sich nicht mit ihrem Körper vollständig identifizieren kann. Ist das der gesamte Körper oder nur Teile davon? Sind es die Geschlechtsmerkmale oder ist es mehr als das? Was ist mit den Haaren, den Lippen, den Augen, die sprechen und erzählen? Riecht eine schwangere Frau anders als ein Mann? Ja, aufgrund der Hormone zum Schutz ihres Kindes. Ich frage mich, ist es «nur» das Geschlecht oder ist es mehr als das oder alles gleichzeitig – intersektional. Was ist mit der Hautfarbe, mit den Bewegungen, die Ray gänzlich anders durchführt? Ich frage mich, wie es wäre in einem Körper gefangen zu sein, den ich nicht bewohnen will. Die Gründe blende ich hier mal aus, diese sind zu individuell und gesamtgesellschaftlich hoch aufgeladen. Ich drehe, tanze, schwinge mich, gehe nahe an ihn ran. Und ich entdecke etwas sehr Wertvolles: Empathie. Er und ich sind verbunden. Diese bedeutende Erfahrung ließe sich allgemein ausweiten und auf zahlreiche gesellschaftliche Bereiche, für Personen die in der Pflege arbeiten, für Personen die mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen arbeiten, in der Drogentherapie, in der medizinischen Ausbildung und so weiter. Hoch euphorisch verlasse ich das Zelt und erkenne immenses Potenzial darin. Ich hoffe VR ebnet uns den Weg in eine gerechtere, empathischere und friedliche Zukunft. Ich sag nur: Dopamin!


#venezia_non_e_disneyland

*XR: Extended Reality – Erweiterte Realität
**VR: Virtual Reality – Virtuelle Realität