Pflanzenmusik von Susanna Ridler
Zwei einsame Pflänzchen hatte Susanna einst zusammengeführt an einem Silvesterabend in Wien anno 1994, da waren ich und ein Kollege, den ich vorher nur als Schauspieler auf der Bühne bewundert hatte und er mich ebenso, bei unserer gemeinsamen Freundin Susanna eingeladen. Susanna, ich und das Aktionstheater-Ensemble tourten damals mit Lysistrata in der wunderbaren Übersetzung von Erich Fried durch die Lande, wir waren jung, frei, ungebunden, verlassen, verliebt, verloren oder hoffnungsfroh. Und als Schauspieler*innen entsetzlich unterbezahlt. Finanziell ein Desaster, aber künstlerisch interessant und erfolgreich. So ging unser Leben dahin, man glaubt es kaum, der freie Fall ins Nichts, nie wissend, wann und ob das nächste Engagement kommt. Vogelfrei. Zum Abschuss freigegeben. Fliegt, Vögel, fliegt, bevor ihr vom Himmel fallt durch Kugelhagel oder Feuer, das die Erde verbrennt. Aber wir waren jung, das Leben vor uns, Umweltschutzbewegungen bereits im Gang, die man auslachte, nicht ernst nahm und die man geringschätzte.
Was nun, Leute, angesichts der Feuer am Himmel, lacht ihr immer noch? Aber was sage ich. Es gibt Leugnung und autoritäre Idiotie nach wie vor, vor unserer Türe und weit weg. Heute, siebenundzwanzig Jahre später, sieht man, was nicht getan wurde. Jenen Mann, den ich also am Silvesterabend kennenlernte, den ich heute wie meine Westentasche kenne, heiratete ich drei Jahre später, zeugte Nachwuchs, wo doch mein Vater mir damals riet, kein zweites Kind in diese Welt zu setzen, die sich selbst vernichtet. Immer öfter denke ich an ihn und seine Prophezeiungen. Wir verweben wir uns, unsere Erfahrungen mit dieser Welt?
Musik ist ein Weg ins Leben und darüber hinaus.
Susanna war unsere Trauzeugin. Dann verloren wir uns aus den Augen. Sie ging in die Niederlande, um Musik zu studieren. Einmal besuchte ich sie in Maastricht und Amsterdam; war so überwältigt von ihrem Willen und der Möglichkeit, dort Musik machen zu können, von ihrer Gewissheit, Musik und Gesang zu studieren. Das was ich immer machen wollte. Eigentlich. Im Verborgenen gedacht. Über das ich aber nie sprach. Mir nichts zugetraut. Musik kann man professionell nur machen, wenn man Zeit hat, vollkommen durchgängig Zeit, sich dem künstlerischen Prozess hinzugeben. Susanna hat diese Zeit gehabt; hat sich diese Zeit genommen, sich bewusst entschieden. Als Susanna nach Los Angeles ging, versandete unser Kontakt, blieb in der Ebbe stecken, wie angeschwemmte Muschelteile. Irgendwann, ich weiß nicht mehr, wann es war, musste sie nach Wien zurück. Alles plötzlich dort abbrechen. Ein für die Verlängerung von Visa für Künstler*innen zuständiges Büro kassierte ihr Geld, blieb ihr aber die Ausstellung des Visums schuldig. Die Amis sind da recht hart. Wer sich nicht an die Ein- und Ausreiseregeln hält, muss sofort raus aus den Staaten, sonst gibt es permanentes Einreiseverbot. Susanna erlitt eine schwere Rückenverletzung. Ich besuchte sie damals und war über ihren Zustand schockiert. Sie konnte nur mehr liegen. Eine Rückenoperation stand im Raum. Mit allen dramatischen eventuellen Folgen. Susanna entschloss sich, für eine andere Art von Therapie, für Musiktherapie. Musik war und ist ihre Behandlung, ihr Weg ins Leben und drüber hinaus. Was für ein Glück.
Suite, Sonate, Chaconne oder Passacaglia mischen sich mit den Wörtern Jonkes.
Susanna Ridler arbeitet vokal mit ihrer Stimme und komponiert mit einem Gewebe aus Jazz, Zeitgenössischer Musik, Elektronik, Literatur. Künstlerisch bedeutend wurde die Entwicklung des Jazz/Elektronik-Projektes [koe:r], einem innovativen Mix aus akustischer und digitaler Soundästhetik, die Susanna Ridler auf zwei Tonträgern ihres Labels Electroland Records verwirklichte. 2012 folgte Susystems und ein Jahr später ein Kompositionsauftrag mit dem Werk des Dichters Gert Jonke. Daraus entstand Geometrie der Seele, ein unsichtbares seelisches Formenfeld, wie Ridler es beschreibt, eine langjährige musikalische Reise durch die Welt Gert Jonkes, und ihre Kooperation mit den prominenten Musikern Peter Herbert und Wolfgang Puschnig. Susanna erhielt Zugang zu Gert Jonkes Arbeitszimmer, war anfänglich überwältigt von den Mengen an zum Teil auch unveröffentlichtem Material, das sich dort befand, wie zum Beispiel zahllose Tonbandkassetten mit Interviews und Gesprächen mit Jonke oder die vielen Schreibmaschinen. Daraus zauberte Susanna in Anlehnung an Jonkes musikalische Variationstechniken, nicht nur Kompositionen für Kammerorchester, die sie mit Peter Buwik und seinem ensemble XX. jahrhundert realisierte, sondern eine üppige Kreation mit Gert Jonkes Sprache, die nicht nur erzählen, sondern auch Musik machen sollte. Suite, Sonate, Chaconne oder Passacaglia mischen sich in den Wörtern Jonkes. Susanna sagt, sie versuche auf dieser CD den inneren Klang der Emotionen dieser Texte nach außen zu transferieren. Es ist ihr gelungen. Mein Lieblingstrack ist definitiv Pflanzenmusik!
Die Masse der digitalen Aggregatoren
Wir sitzen in ihrem kleinen Gärtchen, ein paar Ribisel stehen für mich bereit und ein Glas Wasser mit Minze. Susanna erzählt: «Grundsätzlich bin ich sehr glücklich mit dem, was ich tue, mit meiner Entwicklung vom Theater kommend, seit Lysistrata, habe ich immer versucht mich weiterzuentwickeln, kompositorisch, stimmlich, performativ und auch mit meinen elektronischen Geräten auf der Bühne und im Studio. Wichtig dabei war es auch, mich nicht zu wiederholen und stets neue musikalische Wege und Ausdruckformen zu suchen. Nun nach Veröffentlichung der CD Geometrie der Seele und dem Abschluss meiner ‹Jonke-Forschungsreise›, stehe ich aufgrund von Corona und der Unplanbarkeit von Konzerten, dem plötzlichen Ende vom Vertrieb Lotus Records insgesamt irgendwie an einem Wendepunkt. Es ist nicht klar, wie es weitergeht. Die Strukturen des früher funktionierenden Musikbusiness, wie es 2008 bei meiner ersten CD möglich war, mit CD-Verkauf noch etwas verdienen zu können, sind zerbröselt. Klicks und die digitale Selbstvermarktung scheinen wichtiger als die Musik und sogar digitale Vertriebe entscheiden anhand von Klicks, ob sie ein Produkt vertreiben oder nicht. Es wird den Musiker*innen und Komponist*innen geraten, die ersten 30 Sekunden möglichst interessant zu gestalten, damit die Leute nicht wegklicken.» Eine Entwicklung, die bezeichnend ist, in vielen Dimensionen unseres Lebens. Am digitalen Markt gibt es mittlerweile weltweit so viele Vertriebe und Aggregatoren, dass man sich erst mal zurechtfinden muss, wo man was wie veröffentlichen kann; ein digitaler Dschungel, erzählt Susanna weiter.
Zukunftsmusik. Es darf keine Zeit mehr vergehen.
Vermutungen prägen unseren Alltag, solange man sich nicht zusammensetzt und offen redet. Das war vor einer Woche mit Susanna der Fall. Und es war anschlusslos, übergangslos, so als hätten wir uns nicht vor acht Jahren das letzte Mal gesehen, sondern gestern erst. Das ist faszinierend. Wenn die Frequenz stimmt, das Zusammenspiel, spielt Zeit keine Rolle mehr. Man blickt sich in die Augen – und versteht. Wir sind reifer. Wir haben uns beide verändert. So konnte ich meine Vermutungen zu Susannas Karriere ad acta legen, denn ich nahm an, dass aufgrund der sensationellen Kritiken ihrer Werke, ihrer Konzerte, ein gutes Auskommen und hoffentlich noch weit mehr, mit Musik möglich wäre. Eine Vermutung nur. Susanna Ridler ist grundsätzlich positiv und zuversichtlich, dass sich weitere musikalisch-künstlerische Wege finden werden. Mit ihrer kommenden ersten Filmmusik geht das schon in eine neue und faszinierende Richtung, für den neuen Dokumentarfilm von Regisseurin Maria Arlamovsky. Kompositorisch ist es Susanna nach der langen Produktionszeit für die Jonke-CD ein Anliegen, sich auch mit aktuellen Themen auseinanderzusetzen. «Unsere Welt ist von so vielen Fragen und Herausforderungen umgeben. Genug Material für neue Kompositionen», sagt Susanna. Gert Jonkes Werke sind ein wenig in Vergessenheit geraten, obwohl er doch in seinen Texten auf grotesk-absurde Weise die Einverleibung von Mensch und Natur zugespitzt beleuchtet, lese ich im wunderschön gestalteten CD-Booklet. Susanna Ridlers Hommage an Gert Jonke, der am 8. 2. 2021 seinen 75. Geburtstag gefeiert hätte, ist damit auch eine Erinnerung an einen bedeutenden österreichischen Schriftsteller, denn «Jonkes Kunst verdient neue Aufmerksamkeit, ihr Zauber ist durchdrungen von Aktualität». Susanna Ridler arbeitet für 2022/23 an neuen Kompositonen mit dem Titel Letzte Lieder für die Erde. Musik als Pamphlet, als Transmitter, als Satellit, der uns über die Erde hinweg alle miteinander verbindet. Ich höre ihre CD [koe:r], den Titel Summertime. Er beginnt mit einem heftigen Gewitter. Susanna, ich wünsche dir und uns allen, die Übung möge gelingen. Die Lieder sollten wir bald singen, sehr bald. Es darf keine Zeit mehr vergehen. Wir sitzen auf einem absterbenden Ast. Vogelfrei.
www.gert-jonke-gesellschaft.at