Wien, Ende März 2020
Was ich wahrnehme? Schmerzen. Überall Schmerzen. Und gar nicht nur die meinen. Sie wecken mich auf, manchmal rufen sie oder winseln leise, wie Gespenster aus der Ferne. Noch tragen sie die Hülle einer Verleugnung, manche aber können ihre Trauer schon zu Wort bringen. In den sozialen Netzwerken kann man sie entdecken, zwischen den Zeilen oder offen. In dieser Trauer um den Verlust eines hin und wieder unbeschwerten Lebensgefühls fühlen wir uns alle vereinigt, als große menschliche Masse eines lebendigen Planeten. Ich spüre mich seit der Quarantäne mit allen Menschen dieser Erde verbunden und bin ihnen so fern wie noch nie. Dieses Gefühl hat bisher in meinem Leben noch nie einen Platz in mir eingenommen. Es ist äußerst ambivalent und hält beide, weit entfernten Pole, links und rechts, fest in der Mitte gebündelt zusammen. Ja, das ist Ambivalenz. Das Gegensätzliche im Außen zu ertragen fällt schwer.
Sobald ich mich auf Facebook virtuell bewege, verschlingen mich die immer wieder und immer wieder behaupteten Weltszenarien in ihrer redundanten Bedeutungslosigkeit. Es gibt nichts Bedeutungsloseres als Facebook. Österreich und heute und die Bild-Zeitung und Facebook. Immer wieder scheitere ich an Facebook ob meines Dranges, die Menschen verstehen zu wollen. Der unlängst, vor einigen Wochen gefasste Beschluss, dort final auszusteigen, wurde mir nun durch humanpathogene Mikroorganismen vereitelt. Covid-19 hat sich Facebook bemächtigt. Ich spule zurück. Im Jänner 2020 war in Medien ein-, zweimal von Katastrophenschutz zu hören. Die Bevölkerung solle prophylaktisch immer das Notwendigste zuhause haben, hörte ich. Ich wurde hellhörig, recherchierte, las in Qualitätsmedien, wollte mich darüber informieren und landete doch auch wieder bei Facebook, dem größten Mensch-ärgere-dich-nicht-Online-Spiel, das es gibt. Facebook zelebriert das Gegenteil von Zurückhaltung. Facebook ist die Welt-Turbine der Übertreibung, das Willhaben der Meinungen. Und auf Facebook zeigt sich das Biedermeier´sche des Internetzeitalters. Man redet sich die Hilflosigkeit und Bestürzung wund. Das ist die Angst vorm Sterben aller Dinge.
Vielleicht erwächst mir persönlich in dieser beginnenden und wahrscheinlich lange nicht enden wollenden globalen Krise ein Vorteil. Nämlich jener selbst zwei lebensbedrohliche Krisen bewältigt zu haben. Es hilft nichts, die fünf Stadien der Trauer, nach Elisabeth Kübler-Ross: Das Leugnen-Der Zorn-Das Verhandeln-Die Depression-Die Akzeptanz, zu verstehen, jedoch nie durchlaufen zu haben. Da stehen wir alle mal davor. Vor dieser Türe. Ins Nichts. Mit offenem Ausgang. Einem Sprung ins Leere. Die Blase soll platzen. Ja, möglicherweise. Sicher aber nicht zeitlich und morphologisch so, wie wir das alle wollen. Unsere Allmacht ist dahin. Unser Luxus, möge er groß oder klein sein. Mit Facebook palavert man sich aus dieser bedrohlichen Leere heraus. Die narzisstischen Sprechkaskaden drängen zur Feuerung wie Kanonen. Auf Facebook tobt ein Krieg des Heimwerker-Glaubens, mit einem Klick bloß ins Algorithmen-Nirvana geschleudert. Facebook zelebriert die mächtigste Glaubensgemeinschaft, die je existiert hat. Es ist die Scheißgasse, in der wir uns befinden. Aus der Rue de la Gack ziehe ich aus und schreibe und schreibe, verdichte Gedanke und Wort und versuche zu sagen, was unter meiner Haut wächst.
Ich komme mir vor wie in Isolationshaft
Eine Woche nach Verlassen dieser Plattform merke ich die ersten Anzeichen von Erholung. Ich rufe meine Freundin Traude Veran im Altersheim an. Sie ist Literatin und ehemalige Schulpsychologin, die im Pensionist*innenheim im 4. Bezirk lebt. Ich würde es vorziehen, lieber kürzer zu leben, als hier eingesperrt zu sein, schildert sie mir am Telefon, ich komme mir vor wie in Isolationshaft. Niemand kann rein, niemand kann raus. Mir geht es halbwegs gut, weil ich zu einem Buch recherchiere und ich schreibe, aber vielen anderen im Haus geht es schlecht. Die Türen sind zu. Es gibt einen sehr kleinen Garten, in dem dann alle stehen, wenn die Sonne hineinscheint. Da gehe ich keinesfalls hin. Der Ess-Saal ist gesperrt, das Café, wo wir uns treffen und plaudern, auch. Man stellt uns das Essen vor die Türe und geht wieder. Aber das Personal ist bemüht freundlich.
Wir haben in dieser Krise letztendlich kapiert, wie sehr die EU-Staaten in der Mangel der neoliberalen Ökonomie das Gesundheitssystem bedrohlich zusammengeschrumpft haben. Und zwar so weit, dass in Frankreich, einem der reichsten Länder der EU, mit horrenden Ausgaben für atomare Rüstung, die Betten in den Spitälern ausgehen für die Behandlung von Corona-Patient*innen. Triage ist das Wort der Stunde. Selektion. Da führt uns die Macht und Absurdität des Geldes hin, grausam und kalt. Ältere Menschen sollen und dürfen arbeiten, solange sie können, damit sie Leistungsträger*innen bleiben, und ältere Menschen zahlen von ihren Pensionen Steuern. Doch sie werden aufgrund ihres Alters und den selbstauferlegten Engpässen der Krankenhäuser nicht mehr behandelt? Ich plädiere für die steuerliche Freistellung ab dem Pensionsalter, nachdem Pensionist*innen offenbar ab einer von Entscheidungsträger*innen definierten Altersgrenze keine optimale gesundheitliche Versorgung in Pandemie-Zeiten erhalten können. PVÖ (Pensionist*innenverband)-Präsident Peter Kostelka: Nach dem ohnehin hohen Arbeitslosenniveau in der Gruppe 50plus schockiert die heute veröffentlichte Steigerung bei ältere Personen in Höhe von 47,4 Prozent. Zudem macht die derzeitige Zwangssituation vielen baldigen Pensionist*innen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung ihrer Alterspension und das muss abgefedert werden. Ältere sind also doppelt hart getroffen – von Arbeitslosigkeit und zusätzlich von zu erwartenden Pensionseinbußen. Und: Viele werden vermutlich überhaupt keinen Job mehr vor dem Pensionsantritt bekommen und daher die Notstandshilfe in Anspruch nehmen müssen. Für diese Gruppe der am schwersten von der Krise getroffenen Menschen fordert der Pensionist*innen-Verband spezielle Maßnahmen wie die Arbeitslosenunterstützung zu verlängern, um den Notstand zu verhindern.
Nachdem jedoch die Regierung den Shutdown herbeigeführt hat, ist sie dazu verpflichtet, auch jene „Leistungsträger*innen“ in vollem Umfang zu unterstützen, da genau jene Menschengruppe immense Verluste bei ihrer zukünftigen Pension zu beklagen haben. Noch mehr Altersarmut wird entstehen, als ohnehin schon gegeben. Wir brauchen dringend ein Grundeinkommen von mindestens 1.200 Euro netto.
Bereits am 9. Jänner gab seitens der EU einen Alarm im System
Vor etwa drei Wochen trat ich einem Chatroom der EU-Grünen bei. Man debattierte über die Lage in Italien. Ich war erstaunt zu hören, die EU-Kommission habe bereits am 9. Jänner 2020 einen Alarm im System eingestellt aufgrund der Risikoabschätzung, und danach werden weitere Risikoabschätzungen gemacht und zwischen den Mitgliedsstaaten diskutiert, erzählte Philipp, aber die Implementierung liegt an den einzelnen Staaten selbst. Auf der Website (Link unten) ist zu lesen: Im ersten Schritt werden schwerwiegende, grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren über das Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) gemeldet. Das EWRS ist ein vertrauliches Computersystem, über das die EU-Länder Warnungen zu Ereignissen mit möglichen Auswirkungen auf die EU melden, Informationen austauschen und ihre Gegenmaßnahmen koordinieren können. Ich vermute also, die österreichische Regierung und alle EU-Mitgliedsstaaten wurden am 9. Jänner dieses Jahres von der Gefährlichkeit des Virus informiert. Daraus leitet sich die dringliche Frage ab: Wieso hat man zu dieser Zeit nicht sofort reagiert, keine Masken, keine Schutzausrüstung und keine Beatmungsgeräte organisiert und warum sind bis zum schulterklopfenden Einschreiten der österreichischen Regierung mehr als 2 Monate vergangen? Alles deutet darauf hin, dass enorm viel Aufarbeitung vor uns liegt, da die EU und ihre Staaten aus den selbstverursachten Fehlern lernen müssen. Wie wird man das aber angehen, parteiübergreifend und EU-weit?
Ich bin davon überzeugt, dass der Laden nachher wieder genauso anspringt wie vorher. Die Natur wird nicht geschont. Die Wirtschaft muss florieren, wie der Name sagt, das Blühen wie die Blumen. Die realen Rosen, Lilien, Narzissen, Leberblümchen und Veilchen, alle diese wunderbaren Gewächse, die es in der Natur gibt, Luft, Himmelskörper, abstrakte Wolkenformationen, weiße Bergketten in Abendsonnen, in ihrer Regelmäßigkeit im Licht des Mondes, stehen täglich zu unser aller Verfügung. Wir schätzen das Selbstverständliche nicht. Wir haben verlernt, was das alles hier bedeutet. Wir beflügeln uns durch ungebremstes wirtschaftliches Wachstum und stutzen uns die Flügel unbemerkt selbst. Uns fehlt definitiv die Liebe zu dieser wunderbaren und leidvollen Welt. Es hat was Lebloses an sich, all dieser exponenzielle Wahnsinn. Mit allem, was er uns auch bietet. Die Liebe zur Erde und zu ihren Menschen wäre mein Apell – im Sinne einer europäische Solidarität. Welche Chance hätten wir denn sonst.
Nachtrag: Ich habe heute mit meiner Tochter geskypt, die ich seit vier Wochen nicht mehr gesehen habe; abgesehen davon hat sie mir Folgendes erzählt :
Freunde der Eltern ihres Freundes fuhren mit dem Auto aus Wien in den Wald, um spazieren zu gehen. Dort erhielten sie die Nachricht über ihr Handy per SMS von A1, dass sie doch bitte wieder nach Hause fahren sollen. Ich dachte zuerst, es wäre ein Scherz. Meine Tochter hat das vehement bestritten.
ecdc.europa.eu/en/threats-and-outbreaks/reports-and-data/risk-assessments