Cherchez la Femme: Maria Sibylla MerianDichter Innenteil

Illustration: Jella Jost

Entomologin, Unternehmerin, Künstlerin, Weltreisende des 17. Jahrhunderts

Unweit des Nationalparks Hohe Tauern liegt die mittelalterliche Stadt Gmünd. Die dort ansässige Kulturinitiative hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, die Stadtgemeinde mit einem umfassenden Kulturangebot zu beleben und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen. Glücklich darüber – denn bei Maria Sibylla Merian klaffte bei mir die Bildungslücke, ich wusste gar nichts über sie – betrachtete ich auf der Broschüre die Schmetterlinge in ihrer Farbenpracht. Als ich mich im Juli dieses Jahres in Bad Gastein aufhielt und eine Ankündigung der laufenden Ausstellung über die deutsche Zeichnerin Sibylla Merian fand, war nicht nur die Reise mit einem Mietauto dorthin eine beeindruckende Überraschung. Denn nicht nur fuhr ich abseits der Autobahnen und Hauptstraßen – durch den Berg mit der Autoschleuse nach Mallnitz und weiter an der Barbarossaschlucht vorbei – und dadurch um einigen Genuss länger durch die landschaftlich traumhaften Wege in Kärnten, nein, auch die Stadt Gmünd als überschaubares, zweitältestes Städtchen Kärntens hat ihren Charme mit einem im Sommer frequentierten Hauptplatz, einem prächtigen Turm, auf den ich als Erstes gleich aufstieg, schmal und eng die Treppen, vier Stockwerke hoch. Die Bilder der Merian, nicht zu glauben wie beflügelnd und bestechend; Licht, Intensität der Farben und die Akribie der Naturforscherin zu Papier gebracht, minutiös, Jahrzehnte um Jahrzehnte, in Deutschland, in den Niederlanden, in Surinam. Für meine Sinne regelrecht ein Ereignis. Warum?

 

Farben, Farben, Licht!

 

Das Betrachten von manchen Farben, also Frequenzen, erzeugt in mir seelisches, körperliches Wohlbefinden. Es ist, als ob eine Portion Endorphine in mein Hirn gekippt wird. Ich glaube, deshalb sind auch manche Museen ein guter Ort, um psychisch wieder ins Gleichgewicht zu kommen, um einfach wieder Freude zu spüren. Mein Partner ist auch Zeichner, bei ihm sind die Reaktionen noch stärker: Beim Betrachten bestimmter Bilder, vor denen er stundenlang stehen kann, kommen ihm die Tränen.

Im Zusammenhang mit Sibylla Merian, ihrer weltweit beachteten Arbeit und Forschungstätigkeit, über die eine beachtliche Menge an Literatur im Umlauf ist, komme ich in einem kleinen Exkurs zu den Farben: Das menschliche Auge ist in der Lage bis zu 2,3 Millionen Farbtöne zu unterscheiden. Jede Farbe hat eine eigene charakteristische Frequenz und eine individuelle Wellenlänge. Farben gehen kontinuierlich von Violett (höchste Frequenz) über Blau, Türkis, Grün, Gelb, Orange bis zu Rot (niedrigste Frequenz). Alle Farben außer Schwarz sind Reflektionen sichtbaren Lichts. Violettes Licht ist hochfrequent, es liegt am oberen Bereich des Farbspektrums. Erreicht die Wellenlänge des Lichtes eine so hohe Frequenz, dass es vom Auge nicht mehr wahrgenommen werden kann, spricht man von ultraviolettem Licht. Am anderen Ende der Skala liegen die Strahlen des infraroten Bereichs, Wärmestrahlungen. Nicht von ungefähr assoziieren wir die Farbe Rot mit Blut, Feuer, Energie, Wärme, Liebe, Leidenschaft, Eros, Gefahr, Leben, Freude und Aggression. Im Christentum galt Rot als die Farbe des Heiligen Geistes und des Blutes der Märtyrer. In China bedeutet die Farbe übrigens Glück. Was ich aber bisher nicht wusste, recherchierte ich im Internet: «Die unterschiedlichen Wellenlängen lösen in unserem Auge einen organischen Reiz aus, so wie Schallwellen einer bestimmten Frequenz in unserem Ohr den Reiz eines Tones auslösen. Während jedoch das Ohr gleichzeitig eintreffende Schallwellen getrennt hören kann, registriert das Auge nur die Summe aller gleichzeitig auf die Netzhaut eintreffenden Lichtstrahlen. Das liegt daran, dass die drei verschiedenen Farbrezeptoren nur auf bestimmte Frequenzbereiche des Lichtes reagieren und diese dann aber mischen.» Faszinierend! Sieht daher jeder Mensch Farben anders? Mittlerweile ist bewiesen, dass unterschiedliche Beleuchtung und persönliche Seherfahrung unterschiedliche Farbimpressionen hervorbringen. Jede:r kann also lernen, sein eigenes Bild zu rezipieren, also sehen, lesen, spüren, erfahren und interpretieren. Für unsere Vorfahren war Farbsehen wichtig, um anhand der Färbung zu beurteilen, wann eine Frucht reif oder ein Blatt noch jung und essbar war. Heute ist Farbe eine andere Form von Botschaft; politisch, künstlerisch und durch die Mode- und Werbeindustrie mutierte die Sinnlichkeit der Farbe in der Inszenierung einer absurden Perfektionierung zum Statussymbol.

 

Die Kuriositätenkabinette der Wohlhabenden

 

Ach, Sibylla! Ich führe mal kurz einen Dialog mit dir, das macht das Schreiben über dich viel direkter. Du hast es also nicht nur mir angetan, nein, wie ich in vielen Büchern über dich lese, hast du die Welt verzaubert und verzauberst sie weiter. Wie so etwas gelingen kann? Ich weiß es nicht, aber wenn man dein mutiges Wesen kennenlernt und vor allem deine Bilder betrachtet, ergießt sich aus ihnen ein Zauber und eine Verwandlung, wie du sie in deinen Studien tausender Raupen, Schmetterlinge, Spinnen, Käfer und allerlei anderer Insekten beschreibst. Es spricht aus deinen Bildern die Neugier und Liebe zu jedem kleinsten Detail der mittlerweile so zerstörten Natur. 320 Jahre später stehe ich vor deinen Bildern und staune wie ein kleines Kind. Deine perfekt gesetzten Striche, die fein ineinander fließenden Farben, bezeugen dein Können, das du schon als Kind von deinem Vater erlernt hast. Als Frau und Mutter zweier Töchter, hattest du das Pouvoir und glücklicherweise auch die finanzielle Möglichkeit dich von deinem Ehemann zu befreien. Diese Freiheit führte dich, nach langem Kämpfen um Gelder für die Überfahrt und dem langen Aufenthalt, nach Surinam. Dem Ort deines Begehrens. Dort beobachtest und zeichnest du handtellergroße Schmetterlinge, die in Europa nach dem Mittelalter noch als Gefährten des Teufels gelten und angeblich die Butter schlecht machen. Ach Gott! Und wie man deine Arbeit runtermachen wollte, dich wieder klein machen wollte. Deine Kritiker wollten dich lieber als brave bescheidene Blumenmalerin sehen. Du bist von Deutschland nach Amsterdam, einer damals durchaus viel freieren, fortschrittlichen Stadt als andere europäische Städte, in der du dich emanzipieren konntest. Du gewannst Zugang zu den Wohlhabenden und ihren Kuriositätenkabinetten (Wundersammlungen!) und sahst die Exponate aus aller Welt, bis du schließlich von dort mit einer deiner Töchter nach Surinam einschifftest. Eine lange mühsame Reise mit viel Gefahr, Freibeutern, Piraten, Unwetter. Mit Malaria kamst du nach einem Jahr zurück, hattest 1715 einen Schlaganfall, konntest nicht mehr zeichnen und starbst wenig später. Fakt ist: An Marias Todestag ließ der Zar einen großen Teil ihrer Sammlung kaufen. Vieles davon befindet sich heute in St. Petersburg. Die Linie ihrer Nachkommen lässt sich bis heute nach Russland verfolgen.

 

Aber wo zum Teufel liegt Surinam?

 

Surinam war eine ehemalige niederländische Kolonie und ist heute ein kleiner Staat an der Nordostküste Südamerikas. Er zeichnet sich durch ausgedehnte tropische Regenwälder und niederländische Kolonialarchitektur aus. Die Niederländer beuteten Sklav:innen für ihre Plantagenarbeit gnadenlos aus. Nachdem die Sklaven aus Erschöpfung oder wegen Krankheiten starben wie die Fliegen, besorgte man sich am Weg nach Europa über Afrika neue Sklav:innen, die wiederum bald verreckten. Auch auf diesem schauerlichen Ruhm baut Europa auf. Sibylla Merian publizierte in deutscher Sprache das bahnbrechende Werk Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung, was für ein wissenschaftliches Werk damals höchst ungewöhnlich war. Es enthielt 50 Kupferstiche aus fast zwei Jahrzehnten Forschung. Zurück in Amsterdam beginnt sie mit der Planung und Ausführung ihres Meisterinnenwerks Metamorphosis insectorum Surinamensium. Der Prachtband erscheint 1705 und begründet ihren weltweiten Ruhm. Die berauschenden Metamorphosen der Raupen fesseln die Merian; sie ist ihnen mehr als ebenbürtig in ihrer Verwandlung zum Flug in die Freiheit. Bei mir im Zimmer hängt nun ein Druck der Merian, eine prächtige Bananenblüte in Rot mit Schmetterling. In einige Bücher über die Merian las ich rein, das Buch von Ruth Kornberger (Frau Merian und die Wunder der Welt) verknüpft Fantasie mit Wahrheit, entwickelt sich zum fiktiven Liebesroman und wird dadurch seicht. Was aber historisch und real ist: Merians Haltung zur Sklaverei tritt deutlich aus ihren Texten heraus. Sie erwähnt die harte Behandlung und berichtet vom Freitod aus Verzweiflung. Sie gewann das Vertrauen der Maroons, jener geflüchteter Sklav:innen, an deren Seite sie im Landesinneren lebte. Auch spricht sie darüber, wie profitgierig die Plantagenbesitzer sind und wie sie Monokultur mit Zuckerrohr betreiben. Von ihnen wird sie wegen ihrem Interesse für Insekten verspottet. Und am Ende muss ich erwähnen – als Kuriosität aber auch als schmerzliche Konsequenz eines ausufernden zerstörerischen Kapitalismus –, es gibt Windeln um 50 Euro mit Aufdruck einer Zeichnung der Merian oder einen Duschvorhang. Was für eine Welt! Was für ein Ausschlachten von allem, was möglich ist, was erlaubt ist! Unverändert, Jahrhunderte über Jahrhunderte. Merians Werk aber – ein Werk für die Ewigkeit und als Mahnmal für die biologische Apokalypse.