Cherchez la Femme: Repair of the FutureDichter Innenteil

Artikel 29 aus der Deklaration der Menschenrechte - Grafik © Jella Jost

Haben wir geahnt, was auf uns zukommt?

Ich höre viel Radio, vor allem Ö1-Sendungen. Dazu sendet man mir als Ö1-Mitglied das Ö1 Magazin per Post zu. Ich lese es überwiegend beim Sitzen auf der Klomuschel. Dort habe ich Zeit, um kurze Texte zu lesen. Es gibt mir einen Überblick über die Sendungen des Monats. Oft lese ich auch von Unbekannten über ihre persönlichen Hörgewohnheiten auf der Rückseite des Magazins. Diese persönlichen Statements haben ihren Reiz, sie sind intim, direkt und nicht abgehoben. Das mag ich. Oft liege ich auch mit der Zeitung in der alten gusseisernen Badewanne und höre Features und Berichte über die App meines Smartphones. Im Badezimmer habe ich Gelegenheit abzuschalten und mich vom Rest der Familie abzukoppeln. Um nachzudenken. Um mich selbst wieder zu spüren. Um das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Seelische Mülltrennung. In der Jänner-Ausgabe ist über das «Casting neuer Ideen» zu lesen, mit zahlreichen Sendungen auf Ö1 ab 19. Jänner, wie zum Beispiel das Radiokolleg ab 9 Uhr. Gelingt es der Zivilgesellschaft, sich neu zu definieren, im Sinne von Gegenmodellen zu exponentiellem Konsumverhalten, durch Wiederbelebung von Handwerk und Kreation? Die Sendungen tragen die Titel «Aufbrechen» und «Reparatur der Zukunft». Man sucht Impulse zur Veränderung, um die Zukunft im Jetzt zu verändern. Generationendialog. Soziale Innovationen. Armutsbekämpfung. Sharing-Initiativen. Alles was selbst gemacht, organisiert und gemeinsam gedacht wird. Ein «Casting neuer Ideen». Die Schaffung einer «analogen Quarantäne». Hashtag #gemma. Ich habe mich gestern bei foodsharing.at angemeldet. Manchmal habe ich was zu geben.

 

Verflixt und zugestrickt

 

Heute am Feiertag, dem 6. Jänner, wird bei uns gebohrt und geschraubt. Es wird wieder gebastelt. Eine neue Beleuchtung fürs Bad muss her. Was haben wir alles in den letzten Jahrzehnten selbst gemacht. Betten wurden selbst zusammengezimmert. Küchen aus Holz selbst gezimmert. Kästen für Kleidung selbst fabriziert und montiert. Anschlüsse wurden selbst gemacht (außer Gas, das ist gefährlich). Lampen haben wir früher aus Papier und farbigen Folien, von den Scheinwerfern aus dem Theater, selbst gemacht. Vorhänge habe ich stets selbst genäht, weil ich das Glück hatte in der Klosterschule als Mädchen, gemäß meiner Geschlechtszugehörigkeit, nähen zu lernen, an Nähmaschinen mit Fußbetrieb. Zumindest kann ich heute noch halbwegs gerade Nähte zusammenbringen, das ist schon was und ich habe die uralte Nähmaschine meiner Mutter aus den 60er-Jahren, eine Singer, geerbt. Ohne mit den Füssen wippen zu müssen. Strombetrieb. Na bitte.
Die Kleidung meiner Kinder bezog ich fast nur Second Hand oder sie wurde selbstgestrickt. Meine Tochter erinnert sich noch an die oft zu große Kleidung, die sie tragen musste. Sie hat es überlebt und heute lachen wir darüber; über unsere damaligen Sparmaßnahmen. So haben wir in jungen Jahren, also in den 80er- und 90er-Jahren, das Reparieren learning by doing erlernt. Mein Partner hat als Elektriker-Sohn einiges mitbekommen, was uns jetzt zugute kommt. Das wieder aufkommende Reparieren, Wiederherstellen, Sanieren und Weiterverwenden ist für uns nichts Neues. Es hat aber andere Bedeutungen und Funktionen, weil Recycling eine ökonomisch-ökologische Notwendigkeit geworden ist, viel mehr als nur Reparieren. Viele Menschen wollen wieder gemeinsam etwas Sinnvolles erschaffen. Positives direkt in die Welt und den öffentlichen Raum setzen.
Ich kenne heute noch Leute, die ihre Autos selbst reparieren. Ältere Autos. Das wird bei der Rundum-Elektronik aber immer komplizierter und teurer. Mein nächstes Smartphone wird mit Sicherheit deshalb auch ein Fair-Phone sein. Das kann man zerlegen. Auseinandernehmen. Zerteilen. Akku tauschen. Einzelteile ersetzen. Ja, das macht Sinn und Spaß. Zuerst verkauft man uns den technologischen Fortschritt, von oben verordnet wie von einem Techno-Gott, immer schneller, immer mega und giga und vor allem immer billiger und immer mehr davon abhängig. Viele können sich das nicht mehr leisten, das Kaufen von Dienstleistungen wie Installateur, Elektriker, Autowerkstatt, Auto und Konsumgüter aller Art, oder sogar Nahrungsmittel. Die Zivilgesellschaft sucht nach Lösungen. Sie übernimmt Agenden, die eigentlich Arbeit der Regierung sind und deren Arbeit wir alle bezahlen. Der Staat zieht sich aus der Verantwortung mehr und mehr zurück. Die Leute sollen selbst ihre Probleme lösen, die von Politik und Weltgeschehen strukturell fabriziert wurden. Wir sollen nicht nur Dinge selbst reparieren, wir sollten uns auch selbst therapieren, ja klar doch, sei dein eigener Therapeut. Laut Sozialversicherung sind 900.000 Personen 2019 seelisch erkrankt. Sie brauchen Therapieplätze, um zu gesunden und wieder arbeiten zu können. In afrikanischen Staaten kommen Leute auf geniale Ideen, sie stellen öffentlich Sit-in-Bänke auf, wo reife Frauen ihre Erfahrung und ihr Wissen zur Verfügung stellen und jüngere Frauen beraten, quasi therapieren. Therapie anstelle von Wegsperren. Frieden statt Gewalt. Politik ist offenbar immer hinten nach?

Die Breitenseer Strickspiele

Auch Nähen und Stricken ist jenes private Handwerk, das wieder en vogue ist und friedlich-politisch-feministische Botschaften werden in den öffentlichen Raum gestrickt. Die Stricklust der jungen Frauen war nicht aufhalten. Ab 2011 wurde auch in Wien alles zugestrickt, was zu sehen war: Bäume, Litfasssäulen, Parkbänke, Brückengeländer und Panzer. Das mit den Panzern war super. Unter Strickistinnen finde ich auch Guerilla Knitting Vienna. Abgesehen von den Termini wie «Links-rechts-Stricken» oder «Queer-Stricken» könnte das in einer völlig anderen Größenordnung stattfinden. Die Aktionen bleiben zu klein, ganz im Sinne wie man Frauen gern behandelt und verniedlicht. Das ist kein «Guerilla Knitting», das ist ein misslungener Versuch eines Ausbruchs aus patriarchalen Strukturen, der mit sanften Strickfäden mit rosa Blümchenmuster im Kleinformat arbeitet. Ja, es geht um die Besetzung des öffentlichen Raums durch Frauen. Der von der Gruppe Knitta please jedoch umstrickte Bus in Mexico City durch Magda Sayeg hat was zutiefst Beeindruckendes. Ja Frauen, es ist in der Tat die Größe, die den Erfolg bestimmt. Strickt groß. Strickt um Gottes Willen nicht klein. Ich finde nur alte Websites im Netz zu Thema Strickguerilla. Schade. Hat es sich ausgestrickt? Schließlich werden Strickgraffitis auch für politische Aussagen genutzt, um gegen verschiedene gesellschaftliche Problematiken zu demonstrieren. Ein für die meisten Stricker*innen gültiger Grundsatz von Magda Sayeg lautet: Dem tristen öffentlichen Raum etwas Wärme zurückzugeben, ohne dabei etwas zu beschädigen. Wie wär´s mit einem Strickfilm? In den Breitenseer Lichtspielen, einem der ältesten Kinos der Welt (seit 1905), gab es bis 2014 die Möglichkeit, bei voller Beleuchtung zu einem Film zu stricken. Was ist daraus geworden?

Selbermachen als Form des Protests

War das Selbermachen in der Nachkriegszeit eine Option, sich mit einfachen Mitteln selbst zu helfen oder fehlende und begehrte, aber zu teure Güter, selbst herzustellen, entwickelten sich zeitgleich auch Bewegungen, für die das Selbermachen eine andere Bedeutung hatte. Für die in den 1960er-Jahren aufkommende Hippiebewegung war das Selbermachen eine Form, sich der Massen- und Konsumkultur zu verweigern. Aber auch mit möglichst wenig Geld auszukommen, um aus den gesellschaftlich aufgezwungenen Arbeitsabläufen auszusteigen. Selbstgenähte Kleidung, selbstgemachter Schmuck waren Ausdruck der Konsumverweigerung. Aufgrund der Naturverbundenheit und der ökologischen Lebensweise der Hippies war auch die Herstellung von Lebensmitteln, das Anbauen von Obst- und Gemüse, eine Möglichkeit der Unabhängigkeit und Selbstorganisation.
Auch die folgende Punkbewegung nutzte das Selbermachen, um gegen die Massen- und Konsumkultur zu protestieren. Durch die Verwendung von Sicherheitsnadeln als Ohrschmuck (Aneignung) und das Upcyclen (Wiederverwertung) der Kleidung mit Nieten und Aufnähern als Formen des Do-it-yourself-Trends wird bereits durch ihr äußerliches Auftreten deutlich, dass sie sich abgrenzen wollen, lese ich auf der Website der Universität Potsdam. Neben der Eigenproduktion von Kleidung waren auch die selbstständige Produktion von Musik sowie deren Vertrieb eine Möglichkeit der Punk-Anhänger, sich aus den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien.
Heute wollen viele dem Massenkonsum, der Fremdbestimmung entgegenwirken, der Trend geht Richtung Vereinfachung. Ob freiwillig oder aufgrund sozio-ökonomischer Strukturen weiß man nur selbst. Für mich liegt der entscheidende Punkt im Erlangen von Erkenntnis. Diese Erkenntnis lautet: Selbstregulierter Konsum heißt maßvoll leben. Ich setze das Maß an mir selbst an, damit mein Leben wieder mir gehört, durch Zeitgewinn und durch das Wiedererlangen der Kontrolle über eigenständige Regulieren und sorgsame Handhabung aller meiner Dinge.

Habe ich geahnt, was auf mich zukommt?

 

Info

Liste aller Sendungen: oe1.orf.at/reparaturderzukunft

magdasayeg.com